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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Die alte Municipalverfassung und die neue Organisation
der politischen Behörden in Ungarn.

Das längst Gefürchtete, das von Vielen Vorausgesehene, nur Wenigen
Unerwartete ist eingetroffen. Die Autonomie der ungarischen Municipien, das
800jiihrige Selfgovernment Ungarns ist vernichtet, vernichtet durch den Federzug
eiues fremden Ministers, ohne und gegen den Willen des ungarischen Volkes,
ohne Parlament, ja selbst ohne Beirath von Vertrauensmännern.

Ich werde hier leine Kritik über die Centralisation und die Bureaukratie
überhaupt folgen lassen; ich werde nur in Kurzem erörtern, was Ungarn an
seinem Mnnicipalwesen besessen, und man wird daraus schließen können, was es
mit der Aufhebung desselben verloren, oder ob ein Volk überhaupt einen solchen
Verlust ertragen kann.

Zu deu ungarischen") Municipien gehörten: 55 Comitate, 52 königl. Frei¬
stätte und 4 freie Kreise; doch wir wollen hier nnr von den Comitaten, als den-
wichtigsten und deu größten Theil des Landes in sich fassenden sprechen; die freien
Kreise wurden, mit nnr geringen Modificationen, nach derselben Norm verwaltet,
die königl. Freistätte standen so sehr unter Curatel der Regierung, daß sich in ihnen
ein eigentliches Mnnicipalleben gar nicht entwickeln konnte.

Das Comitat bildete ein für sich bestehendes, in seiner Verwaltung selbst¬
ständiges, nnr unter Controle der königl. ungarischen Statthalters stehendes
Ganze. -- Die Verwaltung des Comitats wurde vou Beamten geführt, welche
dreijährlich vou dem im Comitate wohnenden Gcsammtadel -- nach Verböczi das
Volk (pvMlu8) -- gewählt. Jeder mündige männliche Adelige, der innerhalb der
Grenzen des Comitats sein Domieil hatte, war ohne allen Census sowohl bei der
Beamten- als Deputirtenwahl wahlfähig; die Wählbarkeit war nnr bei den
Neichstagsdeputirtcn an den Besitz eines adeligen Grundeigentums geknüpft.



Wir sprechen hier blos von Ungarn mit Kroatien und Slavonien. Siebenbürgen
hatte sein eigenes, von dem ungarischen nnr wenig abweichendes Mnnicipalwesen; die Militär¬
grenze hatte auch in ihrer politischen Verwaltung eine militärische Verfassung.
Grenzboten. IV. 1850. 71
Die alte Municipalverfassung und die neue Organisation
der politischen Behörden in Ungarn.

Das längst Gefürchtete, das von Vielen Vorausgesehene, nur Wenigen
Unerwartete ist eingetroffen. Die Autonomie der ungarischen Municipien, das
800jiihrige Selfgovernment Ungarns ist vernichtet, vernichtet durch den Federzug
eiues fremden Ministers, ohne und gegen den Willen des ungarischen Volkes,
ohne Parlament, ja selbst ohne Beirath von Vertrauensmännern.

Ich werde hier leine Kritik über die Centralisation und die Bureaukratie
überhaupt folgen lassen; ich werde nur in Kurzem erörtern, was Ungarn an
seinem Mnnicipalwesen besessen, und man wird daraus schließen können, was es
mit der Aufhebung desselben verloren, oder ob ein Volk überhaupt einen solchen
Verlust ertragen kann.

Zu deu ungarischen") Municipien gehörten: 55 Comitate, 52 königl. Frei¬
stätte und 4 freie Kreise; doch wir wollen hier nnr von den Comitaten, als den-
wichtigsten und deu größten Theil des Landes in sich fassenden sprechen; die freien
Kreise wurden, mit nnr geringen Modificationen, nach derselben Norm verwaltet,
die königl. Freistätte standen so sehr unter Curatel der Regierung, daß sich in ihnen
ein eigentliches Mnnicipalleben gar nicht entwickeln konnte.

Das Comitat bildete ein für sich bestehendes, in seiner Verwaltung selbst¬
ständiges, nnr unter Controle der königl. ungarischen Statthalters stehendes
Ganze. — Die Verwaltung des Comitats wurde vou Beamten geführt, welche
dreijährlich vou dem im Comitate wohnenden Gcsammtadel — nach Verböczi das
Volk (pvMlu8) — gewählt. Jeder mündige männliche Adelige, der innerhalb der
Grenzen des Comitats sein Domieil hatte, war ohne allen Census sowohl bei der
Beamten- als Deputirtenwahl wahlfähig; die Wählbarkeit war nnr bei den
Neichstagsdeputirtcn an den Besitz eines adeligen Grundeigentums geknüpft.



Wir sprechen hier blos von Ungarn mit Kroatien und Slavonien. Siebenbürgen
hatte sein eigenes, von dem ungarischen nnr wenig abweichendes Mnnicipalwesen; die Militär¬
grenze hatte auch in ihrer politischen Verwaltung eine militärische Verfassung.
Grenzboten. IV. 1850. 71
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[0049] Die alte Municipalverfassung und die neue Organisation der politischen Behörden in Ungarn. Das längst Gefürchtete, das von Vielen Vorausgesehene, nur Wenigen Unerwartete ist eingetroffen. Die Autonomie der ungarischen Municipien, das 800jiihrige Selfgovernment Ungarns ist vernichtet, vernichtet durch den Federzug eiues fremden Ministers, ohne und gegen den Willen des ungarischen Volkes, ohne Parlament, ja selbst ohne Beirath von Vertrauensmännern. Ich werde hier leine Kritik über die Centralisation und die Bureaukratie überhaupt folgen lassen; ich werde nur in Kurzem erörtern, was Ungarn an seinem Mnnicipalwesen besessen, und man wird daraus schließen können, was es mit der Aufhebung desselben verloren, oder ob ein Volk überhaupt einen solchen Verlust ertragen kann. Zu deu ungarischen") Municipien gehörten: 55 Comitate, 52 königl. Frei¬ stätte und 4 freie Kreise; doch wir wollen hier nnr von den Comitaten, als den- wichtigsten und deu größten Theil des Landes in sich fassenden sprechen; die freien Kreise wurden, mit nnr geringen Modificationen, nach derselben Norm verwaltet, die königl. Freistätte standen so sehr unter Curatel der Regierung, daß sich in ihnen ein eigentliches Mnnicipalleben gar nicht entwickeln konnte. Das Comitat bildete ein für sich bestehendes, in seiner Verwaltung selbst¬ ständiges, nnr unter Controle der königl. ungarischen Statthalters stehendes Ganze. — Die Verwaltung des Comitats wurde vou Beamten geführt, welche dreijährlich vou dem im Comitate wohnenden Gcsammtadel — nach Verböczi das Volk (pvMlu8) — gewählt. Jeder mündige männliche Adelige, der innerhalb der Grenzen des Comitats sein Domieil hatte, war ohne allen Census sowohl bei der Beamten- als Deputirtenwahl wahlfähig; die Wählbarkeit war nnr bei den Neichstagsdeputirtcn an den Besitz eines adeligen Grundeigentums geknüpft. Wir sprechen hier blos von Ungarn mit Kroatien und Slavonien. Siebenbürgen hatte sein eigenes, von dem ungarischen nnr wenig abweichendes Mnnicipalwesen; die Militär¬ grenze hatte auch in ihrer politischen Verwaltung eine militärische Verfassung. Grenzboten. IV. 1850. 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/49>, abgerufen am 24.08.2024.