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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Correspondenz:
Der AuSlieferungscartell zwischen Preußen und Rußland.

Die Erneuerung des Cartells zwischen Preußen und Rußland hat der preußische"!
Regierung in dem letzten Jahr manchen Vorwurf zugezogen. Traurige und empörende
Scenen, wie z. B. das neuliche Tscherkcssenschlachten, erregten das deutsche Mitgefühl
und die Behauptung, zwischen einer humanen Regierung und einem Despotismus, der
in seinen Aeußerungen so oft barbarisch sei, dürfe ein solcher Vertrag, der arme Flüchtlinge
einem grausamen Verhängniß überliesere, nicht stattfinden. Man vergißt dabei die nächste
Vergangenheit. Ohne Zweifel war es das warme Herz des gegenwärtigen Herrschers
von Preußen, welches auf eine kurze Zeit die Erneuerung des,Kartells nach dessen Ab¬
lauf zu verhindern suchte; sicher a^er ist, daß die humanen Rücksichten auf das Loos
der Flüchtlinge sehr bald der zwingenden Rücksicht auf das Wohl der eigenen Staats¬
bürger weichen mußten. Die Erfahrung bewies, daß die Aufrechthaltung des Cartells
vielleicht noch mehr in preußischem, als in russischem Interesse lag; daß eS zwar ein
Unglück für Preußen sei, auf seiner langen offenen Ostgrenze Nußland zum Nachbar
zu haben, daß aber dies Unglück für die preußischen Ostprovinzcn doppelt fühlbar werde,
wenn man die Flüchtlinge aus Nuß land behalte.

Die Aufhebung des Vertrages war nämlich in Polen und im russischen Heer sehr
bald bekannt geworden und die Anzahl der Ueberläufer nahm auf so bedrohliche Weise
zu, daß die Sicherheitspolizei der Grenzkreise vollständig ungenügend wurde. Verbrechen
an Personen und Eigenthum vermehrten sich auf sehr bedrohliche Weise und die Auzahl der
subsistenzloscn Individuen wuchs so schnell, daß es nicht möglich war, sie unterzubringen.
Preußen hat keinen Abznggraben für faule Kraft, wie Algier für Frankreich ist, und
sein Hcersystcm macht den Kriegsdienst gewordener Fremdlinge unmöglich. Für die
Beschäftigungen deS Friedens aber war die ungeheure Mehrzahl der Ueberläufer unbrauch¬
bar. Zum größten Theil aus der niedersten Classe deS rohen Volkes, verzweifelnd an
ihrem Schicksal, losgerissen von Allem, was ihnen menschlich werth gewesen war, ver¬
wildert selbst durch die Flucht, die Furcht und das Gewissen, mitten unter Fremden,
deren Sprache sie oft nicht verstanden, wurden diese Unglücklichen, selbst wenn sie in ih¬
rer Heimath noch nicht Verbrecher gewesen waren, doch auf preußischem Grund zu schlechten
Subjecten. Sie bestasten die Bauern, von welchen sie als Knechte aufgenommen wur¬
den, zündeten Höfe an, entliefen in die Wälder und wurden als Bettler, Wilddiebe und
Räuber eine Geißel der Grcnzkrcise. Man sah sich endlich genöthigt, sie in die Festun¬
gen zu stecken und durch Zwangsarbeit zu beschäftige"; aber auch hier vermehrte sich die
Zahl so schnell, daß sie bereits nach Hunderten in den einzelnen Bezirken gezählt wurden
und ihr Unterhalt und ihre Beaufsichtigung eine große Last ward. Dazu kam, daß
sich voraussetzen ließ, das Ueberlaufen werde mit jedem Jahr zunehmen, je mehr die
Sache in den polnischen und russischen Dörfern bekannt würde. In Polen selbst fand
eine allgemeine Aufregung statt.


Correspondenz:
Der AuSlieferungscartell zwischen Preußen und Rußland.

Die Erneuerung des Cartells zwischen Preußen und Rußland hat der preußische»!
Regierung in dem letzten Jahr manchen Vorwurf zugezogen. Traurige und empörende
Scenen, wie z. B. das neuliche Tscherkcssenschlachten, erregten das deutsche Mitgefühl
und die Behauptung, zwischen einer humanen Regierung und einem Despotismus, der
in seinen Aeußerungen so oft barbarisch sei, dürfe ein solcher Vertrag, der arme Flüchtlinge
einem grausamen Verhängniß überliesere, nicht stattfinden. Man vergißt dabei die nächste
Vergangenheit. Ohne Zweifel war es das warme Herz des gegenwärtigen Herrschers
von Preußen, welches auf eine kurze Zeit die Erneuerung des,Kartells nach dessen Ab¬
lauf zu verhindern suchte; sicher a^er ist, daß die humanen Rücksichten auf das Loos
der Flüchtlinge sehr bald der zwingenden Rücksicht auf das Wohl der eigenen Staats¬
bürger weichen mußten. Die Erfahrung bewies, daß die Aufrechthaltung des Cartells
vielleicht noch mehr in preußischem, als in russischem Interesse lag; daß eS zwar ein
Unglück für Preußen sei, auf seiner langen offenen Ostgrenze Nußland zum Nachbar
zu haben, daß aber dies Unglück für die preußischen Ostprovinzcn doppelt fühlbar werde,
wenn man die Flüchtlinge aus Nuß land behalte.

Die Aufhebung des Vertrages war nämlich in Polen und im russischen Heer sehr
bald bekannt geworden und die Anzahl der Ueberläufer nahm auf so bedrohliche Weise
zu, daß die Sicherheitspolizei der Grenzkreise vollständig ungenügend wurde. Verbrechen
an Personen und Eigenthum vermehrten sich auf sehr bedrohliche Weise und die Auzahl der
subsistenzloscn Individuen wuchs so schnell, daß es nicht möglich war, sie unterzubringen.
Preußen hat keinen Abznggraben für faule Kraft, wie Algier für Frankreich ist, und
sein Hcersystcm macht den Kriegsdienst gewordener Fremdlinge unmöglich. Für die
Beschäftigungen deS Friedens aber war die ungeheure Mehrzahl der Ueberläufer unbrauch¬
bar. Zum größten Theil aus der niedersten Classe deS rohen Volkes, verzweifelnd an
ihrem Schicksal, losgerissen von Allem, was ihnen menschlich werth gewesen war, ver¬
wildert selbst durch die Flucht, die Furcht und das Gewissen, mitten unter Fremden,
deren Sprache sie oft nicht verstanden, wurden diese Unglücklichen, selbst wenn sie in ih¬
rer Heimath noch nicht Verbrecher gewesen waren, doch auf preußischem Grund zu schlechten
Subjecten. Sie bestasten die Bauern, von welchen sie als Knechte aufgenommen wur¬
den, zündeten Höfe an, entliefen in die Wälder und wurden als Bettler, Wilddiebe und
Räuber eine Geißel der Grcnzkrcise. Man sah sich endlich genöthigt, sie in die Festun¬
gen zu stecken und durch Zwangsarbeit zu beschäftige»; aber auch hier vermehrte sich die
Zahl so schnell, daß sie bereits nach Hunderten in den einzelnen Bezirken gezählt wurden
und ihr Unterhalt und ihre Beaufsichtigung eine große Last ward. Dazu kam, daß
sich voraussetzen ließ, das Ueberlaufen werde mit jedem Jahr zunehmen, je mehr die
Sache in den polnischen und russischen Dörfern bekannt würde. In Polen selbst fand
eine allgemeine Aufregung statt.


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[0485] Correspondenz: Der AuSlieferungscartell zwischen Preußen und Rußland. Die Erneuerung des Cartells zwischen Preußen und Rußland hat der preußische»! Regierung in dem letzten Jahr manchen Vorwurf zugezogen. Traurige und empörende Scenen, wie z. B. das neuliche Tscherkcssenschlachten, erregten das deutsche Mitgefühl und die Behauptung, zwischen einer humanen Regierung und einem Despotismus, der in seinen Aeußerungen so oft barbarisch sei, dürfe ein solcher Vertrag, der arme Flüchtlinge einem grausamen Verhängniß überliesere, nicht stattfinden. Man vergißt dabei die nächste Vergangenheit. Ohne Zweifel war es das warme Herz des gegenwärtigen Herrschers von Preußen, welches auf eine kurze Zeit die Erneuerung des,Kartells nach dessen Ab¬ lauf zu verhindern suchte; sicher a^er ist, daß die humanen Rücksichten auf das Loos der Flüchtlinge sehr bald der zwingenden Rücksicht auf das Wohl der eigenen Staats¬ bürger weichen mußten. Die Erfahrung bewies, daß die Aufrechthaltung des Cartells vielleicht noch mehr in preußischem, als in russischem Interesse lag; daß eS zwar ein Unglück für Preußen sei, auf seiner langen offenen Ostgrenze Nußland zum Nachbar zu haben, daß aber dies Unglück für die preußischen Ostprovinzcn doppelt fühlbar werde, wenn man die Flüchtlinge aus Nuß land behalte. Die Aufhebung des Vertrages war nämlich in Polen und im russischen Heer sehr bald bekannt geworden und die Anzahl der Ueberläufer nahm auf so bedrohliche Weise zu, daß die Sicherheitspolizei der Grenzkreise vollständig ungenügend wurde. Verbrechen an Personen und Eigenthum vermehrten sich auf sehr bedrohliche Weise und die Auzahl der subsistenzloscn Individuen wuchs so schnell, daß es nicht möglich war, sie unterzubringen. Preußen hat keinen Abznggraben für faule Kraft, wie Algier für Frankreich ist, und sein Hcersystcm macht den Kriegsdienst gewordener Fremdlinge unmöglich. Für die Beschäftigungen deS Friedens aber war die ungeheure Mehrzahl der Ueberläufer unbrauch¬ bar. Zum größten Theil aus der niedersten Classe deS rohen Volkes, verzweifelnd an ihrem Schicksal, losgerissen von Allem, was ihnen menschlich werth gewesen war, ver¬ wildert selbst durch die Flucht, die Furcht und das Gewissen, mitten unter Fremden, deren Sprache sie oft nicht verstanden, wurden diese Unglücklichen, selbst wenn sie in ih¬ rer Heimath noch nicht Verbrecher gewesen waren, doch auf preußischem Grund zu schlechten Subjecten. Sie bestasten die Bauern, von welchen sie als Knechte aufgenommen wur¬ den, zündeten Höfe an, entliefen in die Wälder und wurden als Bettler, Wilddiebe und Räuber eine Geißel der Grcnzkrcise. Man sah sich endlich genöthigt, sie in die Festun¬ gen zu stecken und durch Zwangsarbeit zu beschäftige»; aber auch hier vermehrte sich die Zahl so schnell, daß sie bereits nach Hunderten in den einzelnen Bezirken gezählt wurden und ihr Unterhalt und ihre Beaufsichtigung eine große Last ward. Dazu kam, daß sich voraussetzen ließ, das Ueberlaufen werde mit jedem Jahr zunehmen, je mehr die Sache in den polnischen und russischen Dörfern bekannt würde. In Polen selbst fand eine allgemeine Aufregung statt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/485>, abgerufen am 22.07.2024.