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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Ricks W. Gabe.

Neben Mendelssohn und Schumann lebte in Leipzig während der Jahre
1844--58 der Componist Ricks W. Gabe aus Kopenhagen. Er war wenige
Zeit vorher noch ganz unbekannt in Deutschland, denn die kleinen Stücke, welche
von ihm in scandinavischen Sammelwerken erschienen, waren nicht von genügender
Bedeutung, um über die Ostsee nach Deutschland zu dringen. Erst da zog er
die Augen der Musiker auf sich, als er seine Ouvertüre zu Ossian herausgegeben
hatte, eine Composition, für welche er von der dänischen Negierung das Reise-
stipendium erhielt. Im Gewandhause zu Leipzig wurde sie das erste Mal im
Winter 18-52 aufgeführt und erlangte ihrer Eigenthümlichkeit wegen den entschie¬
densten Erfolg; solche nordische Tonweisen und diese nationalen Klänge waren noch
nie in deutschem Raume gehört worden. Es that dem Publicum wohl, nachdem es
seit Jahren unaufhörlich in dem glühenden Strome der Beethoven'schen Muse hatte
schwimmen müssen, zur Abwechselung ein kaltes Sturzbad in den Eisbergen des
Nordens zu genießen. Bald darauf erschien die erste Siufouie in O-moll, welche,
von Mendelssohn warm befürwortet und mit dem Orchester sorgfältig einstudirt,
gleichen Beifallssturm erregte. Durch diese beiden Erfolge war Gabe's Ruf in
Leipzig gegründet; der Enthusiasmus stellte ihn neben Mendelssohn und machte
Schumann's Fähigkeiten und Leistungen ihm gegenüber fast zweifelhaft. Der gute
Eindruck seiner Werke wurde im Jahre 1844 dnrch sein persönliches Erscheinen in
Leipzig wesentlich gesteigert; er war jung, von bescheidenem, freundlichem Benehmen,
und, was die Hauptsache erschien, seiue Gesichtszüge führten dem Beschauer un¬
willkürlich Mozart's schönes Profil vor die Seele, obgleich die unbeweglichen
Mienen und das starre Auge bald wieder von dieser Aehnlichkeit abzogen und an
den Norden erinnerten. Gabe wurde schnell der Mignon Mendelssohn's, will
heißen: des Leipziger Publicums; er ist das letztere eigentlich bis auf diesen Augenblick
geblieben, wenigstens in einzelnen musikalischen Kreisen, obgleich sich auch schon
manche Stimme gegen ihn erhoben und der Ketzerei schuldig gemacht hat. --
Eine zweite Siufonie (K-<Zur) erschien von ihm noch im Laufe des Winters von
1844. Auch diese wurde sogleich zur Aufführung gebracht und erlangte ebenfalls
lebhaften Beifall, doch eiuen minderen, als die erste; das Publicum war nämlich
enttäuscht, es hatte wieder die rauhen Gesänge nordischer Statten erwartet, um
sich in seinem Innern behaglich von Schauer und Grausen durchschütteln zu lassen,
aber es fand nur wenig Schauerstoff in dem neuen Werke, es war modernes
Empfinden darin, die Musik zeigte anständige Bildung und war fast zahm. Frischer
und origineller, und als ein Ausfluß der Nationalität des Componisten erschien wieder
die Ouverture. " Im Hochland ". Sie ist ein Pendant zu der Ouvertüre "Ossian",


Grenzboten. IV. 1850. 102
Ricks W. Gabe.

Neben Mendelssohn und Schumann lebte in Leipzig während der Jahre
1844—58 der Componist Ricks W. Gabe aus Kopenhagen. Er war wenige
Zeit vorher noch ganz unbekannt in Deutschland, denn die kleinen Stücke, welche
von ihm in scandinavischen Sammelwerken erschienen, waren nicht von genügender
Bedeutung, um über die Ostsee nach Deutschland zu dringen. Erst da zog er
die Augen der Musiker auf sich, als er seine Ouvertüre zu Ossian herausgegeben
hatte, eine Composition, für welche er von der dänischen Negierung das Reise-
stipendium erhielt. Im Gewandhause zu Leipzig wurde sie das erste Mal im
Winter 18-52 aufgeführt und erlangte ihrer Eigenthümlichkeit wegen den entschie¬
densten Erfolg; solche nordische Tonweisen und diese nationalen Klänge waren noch
nie in deutschem Raume gehört worden. Es that dem Publicum wohl, nachdem es
seit Jahren unaufhörlich in dem glühenden Strome der Beethoven'schen Muse hatte
schwimmen müssen, zur Abwechselung ein kaltes Sturzbad in den Eisbergen des
Nordens zu genießen. Bald darauf erschien die erste Siufouie in O-moll, welche,
von Mendelssohn warm befürwortet und mit dem Orchester sorgfältig einstudirt,
gleichen Beifallssturm erregte. Durch diese beiden Erfolge war Gabe's Ruf in
Leipzig gegründet; der Enthusiasmus stellte ihn neben Mendelssohn und machte
Schumann's Fähigkeiten und Leistungen ihm gegenüber fast zweifelhaft. Der gute
Eindruck seiner Werke wurde im Jahre 1844 dnrch sein persönliches Erscheinen in
Leipzig wesentlich gesteigert; er war jung, von bescheidenem, freundlichem Benehmen,
und, was die Hauptsache erschien, seiue Gesichtszüge führten dem Beschauer un¬
willkürlich Mozart's schönes Profil vor die Seele, obgleich die unbeweglichen
Mienen und das starre Auge bald wieder von dieser Aehnlichkeit abzogen und an
den Norden erinnerten. Gabe wurde schnell der Mignon Mendelssohn's, will
heißen: des Leipziger Publicums; er ist das letztere eigentlich bis auf diesen Augenblick
geblieben, wenigstens in einzelnen musikalischen Kreisen, obgleich sich auch schon
manche Stimme gegen ihn erhoben und der Ketzerei schuldig gemacht hat. —
Eine zweite Siufonie (K-<Zur) erschien von ihm noch im Laufe des Winters von
1844. Auch diese wurde sogleich zur Aufführung gebracht und erlangte ebenfalls
lebhaften Beifall, doch eiuen minderen, als die erste; das Publicum war nämlich
enttäuscht, es hatte wieder die rauhen Gesänge nordischer Statten erwartet, um
sich in seinem Innern behaglich von Schauer und Grausen durchschütteln zu lassen,
aber es fand nur wenig Schauerstoff in dem neuen Werke, es war modernes
Empfinden darin, die Musik zeigte anständige Bildung und war fast zahm. Frischer
und origineller, und als ein Ausfluß der Nationalität des Componisten erschien wieder
die Ouverture. „ Im Hochland ". Sie ist ein Pendant zu der Ouvertüre „Ossian",


Grenzboten. IV. 1850. 102
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[0297] Ricks W. Gabe. Neben Mendelssohn und Schumann lebte in Leipzig während der Jahre 1844—58 der Componist Ricks W. Gabe aus Kopenhagen. Er war wenige Zeit vorher noch ganz unbekannt in Deutschland, denn die kleinen Stücke, welche von ihm in scandinavischen Sammelwerken erschienen, waren nicht von genügender Bedeutung, um über die Ostsee nach Deutschland zu dringen. Erst da zog er die Augen der Musiker auf sich, als er seine Ouvertüre zu Ossian herausgegeben hatte, eine Composition, für welche er von der dänischen Negierung das Reise- stipendium erhielt. Im Gewandhause zu Leipzig wurde sie das erste Mal im Winter 18-52 aufgeführt und erlangte ihrer Eigenthümlichkeit wegen den entschie¬ densten Erfolg; solche nordische Tonweisen und diese nationalen Klänge waren noch nie in deutschem Raume gehört worden. Es that dem Publicum wohl, nachdem es seit Jahren unaufhörlich in dem glühenden Strome der Beethoven'schen Muse hatte schwimmen müssen, zur Abwechselung ein kaltes Sturzbad in den Eisbergen des Nordens zu genießen. Bald darauf erschien die erste Siufouie in O-moll, welche, von Mendelssohn warm befürwortet und mit dem Orchester sorgfältig einstudirt, gleichen Beifallssturm erregte. Durch diese beiden Erfolge war Gabe's Ruf in Leipzig gegründet; der Enthusiasmus stellte ihn neben Mendelssohn und machte Schumann's Fähigkeiten und Leistungen ihm gegenüber fast zweifelhaft. Der gute Eindruck seiner Werke wurde im Jahre 1844 dnrch sein persönliches Erscheinen in Leipzig wesentlich gesteigert; er war jung, von bescheidenem, freundlichem Benehmen, und, was die Hauptsache erschien, seiue Gesichtszüge führten dem Beschauer un¬ willkürlich Mozart's schönes Profil vor die Seele, obgleich die unbeweglichen Mienen und das starre Auge bald wieder von dieser Aehnlichkeit abzogen und an den Norden erinnerten. Gabe wurde schnell der Mignon Mendelssohn's, will heißen: des Leipziger Publicums; er ist das letztere eigentlich bis auf diesen Augenblick geblieben, wenigstens in einzelnen musikalischen Kreisen, obgleich sich auch schon manche Stimme gegen ihn erhoben und der Ketzerei schuldig gemacht hat. — Eine zweite Siufonie (K-<Zur) erschien von ihm noch im Laufe des Winters von 1844. Auch diese wurde sogleich zur Aufführung gebracht und erlangte ebenfalls lebhaften Beifall, doch eiuen minderen, als die erste; das Publicum war nämlich enttäuscht, es hatte wieder die rauhen Gesänge nordischer Statten erwartet, um sich in seinem Innern behaglich von Schauer und Grausen durchschütteln zu lassen, aber es fand nur wenig Schauerstoff in dem neuen Werke, es war modernes Empfinden darin, die Musik zeigte anständige Bildung und war fast zahm. Frischer und origineller, und als ein Ausfluß der Nationalität des Componisten erschien wieder die Ouverture. „ Im Hochland ". Sie ist ein Pendant zu der Ouvertüre „Ossian", Grenzboten. IV. 1850. 102

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/297>, abgerufen am 22.07.2024.