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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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zuweilen, in Äußerlichkeiten, zu den sonderbarsten Mißgriffen verleitet, fühlt und
gestaltet Schiller sast immer dramatisch.

Wie wunderbar versteht er es ferner, das Gefühl einer großen Krisis zu
erwecken und sinnlich darzustellen! So die Scene, in der die Jungfrau ihre
Ketten bricht, die Trennung zwischen Max und Wallenstein, die Reihenfolge der
Stimmungen vor Wallensteins Tod, der Streit der beiden Königinnen in Maria
Stuart. Wo es gilt, die Seele in Bewegung zu setzen, zeigt er sich überall als
Meister.

Ich breche dabei ab. Ich halte diese Bemerkungen nicht für überflüssig, weil
Schiller in einem solchen Rufe der Klassicität steht, daß wir ihn in der Regel mit
unsern Gymnasiastenjahren abfertigen, wo man ihn in Bausch und Bogen bewun¬
dert, gewöhnlich um seiner Fehler willen, ohne das, was ihn eigentlich auszeichnet,
würdigen zu können. Später läßt man es dann gewöhnlich bei dieser allge¬
meinen Anerkennung.

Die erwähnten Vorzüge lassen sich eher beschreiben, als nachahmen. Auf
seiue Nachfolger hat Schiller sehr unglücklich gewirkt. Sie haben sein Pathos,
seine Declamationen, seine donnL8 hin-Ach, seine Phrasen und mitunter seine
kleinen Witze wiedergegeben; was er geleistet, haben sie kaum empfunden. --
Später ist man dann zur Erkenntniß dieser Fehler gekommen, und hat das Gute
darüber vergessen.

In uuserer Zeit geht das Streben der dramatischen Kunst uach zwei Rich¬
tungen auseinander, die auch in Bezug auf die Stellung, die Schiller zur Ent¬
wickelung derselben einzunehmen hat, sich zu widersprechen scheinen. Einmal will
das Publicum große historische Anschauungen; ein Pathos, das über blos sub-
jective Gemüthsrichtung hinausgeht, bedeutende Perspectiven in die Weltge¬
schichte, Bewegungen der Masse, die an den Individuen nur ihren Träger hat.
Dann aber ebenso Vereinfachung und Concentration des Interesses ans einzelne,
leicht zu übersehende, und in ihrer Eigenthümlichkeit prägnant ausgeführte Cha¬
raktere, Klarheit und Durchsichtigkeit der Handlung, strenges Festhalten an dem
Gesetz der Spannung, das in der Schiller-Göthe'schen Zeit in dem ersten Gefühl
der Freiheit von den Fesseln der Convenienz und Tradition übertreten wurde.

Der Dichter, welcher diese beideu, freilich schwer zu vereinigenden Anforde¬
rungen gleichmäßig befriedigt -- historische Bedeutung und classische Einfachheit
-- wird die nächste Phase der dramatischen Kunst darstellen; er wird Göthe und
Schiller überwinden, und die deutsche Poesie in die verlassene Bahn der reinen
I. S. Kunst zurückführen, ohne ihren Reichthum aufzugeben.




zuweilen, in Äußerlichkeiten, zu den sonderbarsten Mißgriffen verleitet, fühlt und
gestaltet Schiller sast immer dramatisch.

Wie wunderbar versteht er es ferner, das Gefühl einer großen Krisis zu
erwecken und sinnlich darzustellen! So die Scene, in der die Jungfrau ihre
Ketten bricht, die Trennung zwischen Max und Wallenstein, die Reihenfolge der
Stimmungen vor Wallensteins Tod, der Streit der beiden Königinnen in Maria
Stuart. Wo es gilt, die Seele in Bewegung zu setzen, zeigt er sich überall als
Meister.

Ich breche dabei ab. Ich halte diese Bemerkungen nicht für überflüssig, weil
Schiller in einem solchen Rufe der Klassicität steht, daß wir ihn in der Regel mit
unsern Gymnasiastenjahren abfertigen, wo man ihn in Bausch und Bogen bewun¬
dert, gewöhnlich um seiner Fehler willen, ohne das, was ihn eigentlich auszeichnet,
würdigen zu können. Später läßt man es dann gewöhnlich bei dieser allge¬
meinen Anerkennung.

Die erwähnten Vorzüge lassen sich eher beschreiben, als nachahmen. Auf
seiue Nachfolger hat Schiller sehr unglücklich gewirkt. Sie haben sein Pathos,
seine Declamationen, seine donnL8 hin-Ach, seine Phrasen und mitunter seine
kleinen Witze wiedergegeben; was er geleistet, haben sie kaum empfunden. —
Später ist man dann zur Erkenntniß dieser Fehler gekommen, und hat das Gute
darüber vergessen.

In uuserer Zeit geht das Streben der dramatischen Kunst uach zwei Rich¬
tungen auseinander, die auch in Bezug auf die Stellung, die Schiller zur Ent¬
wickelung derselben einzunehmen hat, sich zu widersprechen scheinen. Einmal will
das Publicum große historische Anschauungen; ein Pathos, das über blos sub-
jective Gemüthsrichtung hinausgeht, bedeutende Perspectiven in die Weltge¬
schichte, Bewegungen der Masse, die an den Individuen nur ihren Träger hat.
Dann aber ebenso Vereinfachung und Concentration des Interesses ans einzelne,
leicht zu übersehende, und in ihrer Eigenthümlichkeit prägnant ausgeführte Cha¬
raktere, Klarheit und Durchsichtigkeit der Handlung, strenges Festhalten an dem
Gesetz der Spannung, das in der Schiller-Göthe'schen Zeit in dem ersten Gefühl
der Freiheit von den Fesseln der Convenienz und Tradition übertreten wurde.

Der Dichter, welcher diese beideu, freilich schwer zu vereinigenden Anforde¬
rungen gleichmäßig befriedigt — historische Bedeutung und classische Einfachheit
— wird die nächste Phase der dramatischen Kunst darstellen; er wird Göthe und
Schiller überwinden, und die deutsche Poesie in die verlassene Bahn der reinen
I. S. Kunst zurückführen, ohne ihren Reichthum aufzugeben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/296>, abgerufen am 22.07.2024.