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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Behagen wohnen. Leider hat der Regent von Preußen keine Aussicht, dnrch das fried¬
liche Gluck seiner Bürger sich für die Verminderung seiner Autorität entschädigt zu
sehen. Preußen ist kein abgeschlossener Staat; das Aufblühen seines Handels
seiner Nhederei, seiner Industrie, jede bedeutende Zunahme seiner productiven Kraft
ist abhängig von einer Vergrößerung seines Einflusses in Deutschland nud Europa.
Die östlichen Grenzprovinzen Preußen, Posen nud Schlesien kranken tödtlich an
dem russischen Prohibitivsystem, vor Stettin liegt der Sundzoll, vor Sachsen die
Erbzölle, gegen die Industrie der Rheinprovinz und Westphalens kämpft der
kräftige Egoismus des Franzosen, deö Belgiers und der Niederländer; zwischen
den östlichen und westlichen Provinzen liegen viele souveraine Staaten, deren
Geldwerthe, Capitalien, Eigenthnmsgesetze auf Hab' und Gut der preußischen
Staatsbürger einen mächtigen Einfluß ausüben. Wer' so ausgezeichnet viele Ver¬
anlassungen hat, fremdem Egoismus mit seinem eignen entgegenzutreten dem ist
die entsprechende Fülle von Kraft, Ansehen, Einfluß und Selbstgefühl unentbehrlich.
Aber auch Preußens staatliches Gedeihen, das geistige Leben seiner Angehörigen,
das Bürgerthum, die Entfaltung freier und kräftiger Institutionen sind abhängig
von der Größe seiner Macht. Ein gesundes constilutiouellcs Leben ist in
einem Staatskörper unmöglich, der so wenig geographischen Zusammenhang hat;
dessen Söhne alle Schwäche, Zerrüttung und Schlechtigkeit in den deutschen Nachbar¬
staaten als ein Familienunglück aufnehmen und voll allem Idealismus und allen
Verirrungen der Nebenstellen ohne das geringste Hinderniß massenhaft angesteckt
werden. Preußen gleicht deshalb einem Hause, das im Bau begriffen ist; auch auf
die lückenhaften unschönen Mauern kann man mit hoffnungsvollen Vertrauen sehen,
so lange die Bauleute sich darauf tummeln, das angefangene Werk weiter zu
führen. Geben die Maurer deu Ausbau auf, so gleicht das einsame Gemäner
alsbald einer Ruine, welche die Faust der Zeit auseinanderwirft, bevor der Mörtel
fest geworden ist.

Diese Ansicht ist in Preußen selbst so allgemein, daß die Beschlüsse des
Ministerrathö vom 2. November eine allgemeine Unzufriedenheit aufgeregt haben.
Es wäre gefährlich, wenn das Cabinet sich durch die Stimmung des Volkes
treiben ließe, mit halben Schritten vorzugehen und zögernd und unentschlossen
wieder die Position aufzugeben, welche es soeben eingenommen hat. Denn selbst
ans dem Wenigen, was über die letzten Kämpfe des Herrn v. Nadowitz als
sichere Nachricht in's Publicum gekommen ist, erhellt, daß die preußische Negie¬
rung in diesem Augenblick keineswegs vorbereitet ist, den Gefahren eines euro¬
päischen Krieges geschützt gegenüberzutreten. Eine lange Zeit ist über falschen
Combinationen und täuschenden Perspectiven verloren worden, und wenn ein
Staatsmann von Urtheil in diesem Angenblick das Ministerium der auswärtigen
Allgelegenheiten übernimmt, so wird er voraussichtlich Alles daran setzen müssen,


Grenzvotcn. IV. 1850. 10y

Behagen wohnen. Leider hat der Regent von Preußen keine Aussicht, dnrch das fried¬
liche Gluck seiner Bürger sich für die Verminderung seiner Autorität entschädigt zu
sehen. Preußen ist kein abgeschlossener Staat; das Aufblühen seines Handels
seiner Nhederei, seiner Industrie, jede bedeutende Zunahme seiner productiven Kraft
ist abhängig von einer Vergrößerung seines Einflusses in Deutschland nud Europa.
Die östlichen Grenzprovinzen Preußen, Posen nud Schlesien kranken tödtlich an
dem russischen Prohibitivsystem, vor Stettin liegt der Sundzoll, vor Sachsen die
Erbzölle, gegen die Industrie der Rheinprovinz und Westphalens kämpft der
kräftige Egoismus des Franzosen, deö Belgiers und der Niederländer; zwischen
den östlichen und westlichen Provinzen liegen viele souveraine Staaten, deren
Geldwerthe, Capitalien, Eigenthnmsgesetze auf Hab' und Gut der preußischen
Staatsbürger einen mächtigen Einfluß ausüben. Wer' so ausgezeichnet viele Ver¬
anlassungen hat, fremdem Egoismus mit seinem eignen entgegenzutreten dem ist
die entsprechende Fülle von Kraft, Ansehen, Einfluß und Selbstgefühl unentbehrlich.
Aber auch Preußens staatliches Gedeihen, das geistige Leben seiner Angehörigen,
das Bürgerthum, die Entfaltung freier und kräftiger Institutionen sind abhängig
von der Größe seiner Macht. Ein gesundes constilutiouellcs Leben ist in
einem Staatskörper unmöglich, der so wenig geographischen Zusammenhang hat;
dessen Söhne alle Schwäche, Zerrüttung und Schlechtigkeit in den deutschen Nachbar¬
staaten als ein Familienunglück aufnehmen und voll allem Idealismus und allen
Verirrungen der Nebenstellen ohne das geringste Hinderniß massenhaft angesteckt
werden. Preußen gleicht deshalb einem Hause, das im Bau begriffen ist; auch auf
die lückenhaften unschönen Mauern kann man mit hoffnungsvollen Vertrauen sehen,
so lange die Bauleute sich darauf tummeln, das angefangene Werk weiter zu
führen. Geben die Maurer deu Ausbau auf, so gleicht das einsame Gemäner
alsbald einer Ruine, welche die Faust der Zeit auseinanderwirft, bevor der Mörtel
fest geworden ist.

Diese Ansicht ist in Preußen selbst so allgemein, daß die Beschlüsse des
Ministerrathö vom 2. November eine allgemeine Unzufriedenheit aufgeregt haben.
Es wäre gefährlich, wenn das Cabinet sich durch die Stimmung des Volkes
treiben ließe, mit halben Schritten vorzugehen und zögernd und unentschlossen
wieder die Position aufzugeben, welche es soeben eingenommen hat. Denn selbst
ans dem Wenigen, was über die letzten Kämpfe des Herrn v. Nadowitz als
sichere Nachricht in's Publicum gekommen ist, erhellt, daß die preußische Negie¬
rung in diesem Augenblick keineswegs vorbereitet ist, den Gefahren eines euro¬
päischen Krieges geschützt gegenüberzutreten. Eine lange Zeit ist über falschen
Combinationen und täuschenden Perspectiven verloren worden, und wenn ein
Staatsmann von Urtheil in diesem Angenblick das Ministerium der auswärtigen
Allgelegenheiten übernimmt, so wird er voraussichtlich Alles daran setzen müssen,


Grenzvotcn. IV. 1850. 10y
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[0281] Behagen wohnen. Leider hat der Regent von Preußen keine Aussicht, dnrch das fried¬ liche Gluck seiner Bürger sich für die Verminderung seiner Autorität entschädigt zu sehen. Preußen ist kein abgeschlossener Staat; das Aufblühen seines Handels seiner Nhederei, seiner Industrie, jede bedeutende Zunahme seiner productiven Kraft ist abhängig von einer Vergrößerung seines Einflusses in Deutschland nud Europa. Die östlichen Grenzprovinzen Preußen, Posen nud Schlesien kranken tödtlich an dem russischen Prohibitivsystem, vor Stettin liegt der Sundzoll, vor Sachsen die Erbzölle, gegen die Industrie der Rheinprovinz und Westphalens kämpft der kräftige Egoismus des Franzosen, deö Belgiers und der Niederländer; zwischen den östlichen und westlichen Provinzen liegen viele souveraine Staaten, deren Geldwerthe, Capitalien, Eigenthnmsgesetze auf Hab' und Gut der preußischen Staatsbürger einen mächtigen Einfluß ausüben. Wer' so ausgezeichnet viele Ver¬ anlassungen hat, fremdem Egoismus mit seinem eignen entgegenzutreten dem ist die entsprechende Fülle von Kraft, Ansehen, Einfluß und Selbstgefühl unentbehrlich. Aber auch Preußens staatliches Gedeihen, das geistige Leben seiner Angehörigen, das Bürgerthum, die Entfaltung freier und kräftiger Institutionen sind abhängig von der Größe seiner Macht. Ein gesundes constilutiouellcs Leben ist in einem Staatskörper unmöglich, der so wenig geographischen Zusammenhang hat; dessen Söhne alle Schwäche, Zerrüttung und Schlechtigkeit in den deutschen Nachbar¬ staaten als ein Familienunglück aufnehmen und voll allem Idealismus und allen Verirrungen der Nebenstellen ohne das geringste Hinderniß massenhaft angesteckt werden. Preußen gleicht deshalb einem Hause, das im Bau begriffen ist; auch auf die lückenhaften unschönen Mauern kann man mit hoffnungsvollen Vertrauen sehen, so lange die Bauleute sich darauf tummeln, das angefangene Werk weiter zu führen. Geben die Maurer deu Ausbau auf, so gleicht das einsame Gemäner alsbald einer Ruine, welche die Faust der Zeit auseinanderwirft, bevor der Mörtel fest geworden ist. Diese Ansicht ist in Preußen selbst so allgemein, daß die Beschlüsse des Ministerrathö vom 2. November eine allgemeine Unzufriedenheit aufgeregt haben. Es wäre gefährlich, wenn das Cabinet sich durch die Stimmung des Volkes treiben ließe, mit halben Schritten vorzugehen und zögernd und unentschlossen wieder die Position aufzugeben, welche es soeben eingenommen hat. Denn selbst ans dem Wenigen, was über die letzten Kämpfe des Herrn v. Nadowitz als sichere Nachricht in's Publicum gekommen ist, erhellt, daß die preußische Negie¬ rung in diesem Augenblick keineswegs vorbereitet ist, den Gefahren eines euro¬ päischen Krieges geschützt gegenüberzutreten. Eine lange Zeit ist über falschen Combinationen und täuschenden Perspectiven verloren worden, und wenn ein Staatsmann von Urtheil in diesem Angenblick das Ministerium der auswärtigen Allgelegenheiten übernimmt, so wird er voraussichtlich Alles daran setzen müssen, Grenzvotcn. IV. 1850. 10y

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/281>, abgerufen am 22.07.2024.