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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Vonderwiesen, eines trotz seines deutschen Namens dnrch und dnrch russischen
Schriftstellers, der in und mit dem Volte lebte, zu seinen geistreichen Schöpfungen
Charaktere aus dein Volke wählte und zugleich zur Heranbildung des Volkes
bedeutend mitwirkte. Vonderwiesen'ö "Nidoroßl" (Muttersöhnchen) kann noch
hente als Meisterstück gelten und liefert das treueste Gemälde der damaligen Zeit.

Mit wenigen wegwerfenden Worten fertigt der Verfasser des vielgedachten
Artikels die Gesammtbcstrebnngen der russischen Literatur ab. Es ist ein Unrecht,
das ich einem Deutschen uicht zugetraut hätte. Es ist aus diesem Paar flüchtiger
Sätze uicht zu entnehmen, ob hier uur von der Gegenwart oder Vergangenheit
der russischen Literatur die Rede ist. Deun Rußland hatte eine literarische Ver¬
gangenheit, die sich in gar manchem Genre nicht nnr den stamnwerwandten sla¬
vischen, sondern auch allen europäischen Literaturschuleu kühn an die Seite setzen
darf. Und es war keine "Nachahmerei fremder Form", es war kräftige, natur¬
wüchsige Originalität, es war nicht blos "epische Anlage", sondern künstlerische
Festhaltung der Form, die sich in den Werken eines, Keilow und Marliuski (Be-
stuschew), in den unsterblichen Büchern eines Püscheln und Inkowsli in der schön¬
sten Vollendung aussprachen. Trotz der Unbeliebtheit des russischen Namens in
Deutschland, welche schou eine Reihe von Jahren andauert, haben diese Schrift¬
steller ihre deutschen Uebersetzer und die verdiente Würdigung ges"nden. Sie
sind voll der deutschen Kritik schon vielfach besprochen worden und ich hebe sie
nnr deswegen hervor, eben weil sie fern von jedem Nachahmungstriebe in ihrer
Ursprünglichkeit ihre Größe finden und weil sie im vollen Sinne des Wortes po¬
puläre, volköthmllliche Schriftsteller siud, und zum Eigenthume des Volkes gewor-
den, das sie in Sprüchwörtern im Munde führt, in den Dörfern, ans Mallgel
der gedruckten Bücher, in Abschriften der beliebtesten Gesänge und Fabeln heilig
aufbewahrt.

Auf Puschkiu habe ich uoch besonders hinzuweisen, uicht allein weil er in
allen seinen Werten den russischen Natioiialtypus mit Meisterhand festgehalten und
selbst im Eugen Eineginn die ihm vorschwebende Byronische Don Juan-Idee
so gut zu zersetzen wußte, daß kein fremdes Gewächs, aber nnr ein dnrch die
modernen Ideen blasirter, aber dnrch die den Sieg erringende kräftige innere
Natur aufgerüttelter Nüsse zur Erscheinung kömmt, was unsern Verfasser in
Bezug ans die geringe Befähigung des russischen Geistes ans andere Meinung
bringen sollte. Aber ich will Puschkiu als Beispiel anführen, wie sich bei deu
Russen außer für das Epische, auch für das Neindramatische nicht nnr Alllage,
sondern geniale Begabung finden kann. Leider wurde Alexander Puschkiu inmitten
seiner Laufbahn, als erst sein Talent sich nach der Gährung der Jugend geläutert
der Reife näherte, gewaltsam von dannen gerissen. Aber er hinterließ ein Werk,
das Product seiner literarischen Klärung, das uns die Ueberzeugung verschafft,
Rußland habe an Alexander Pnschkin noch den Verlust eines großen Dramatikers


Vonderwiesen, eines trotz seines deutschen Namens dnrch und dnrch russischen
Schriftstellers, der in und mit dem Volte lebte, zu seinen geistreichen Schöpfungen
Charaktere aus dein Volke wählte und zugleich zur Heranbildung des Volkes
bedeutend mitwirkte. Vonderwiesen'ö „Nidoroßl" (Muttersöhnchen) kann noch
hente als Meisterstück gelten und liefert das treueste Gemälde der damaligen Zeit.

Mit wenigen wegwerfenden Worten fertigt der Verfasser des vielgedachten
Artikels die Gesammtbcstrebnngen der russischen Literatur ab. Es ist ein Unrecht,
das ich einem Deutschen uicht zugetraut hätte. Es ist aus diesem Paar flüchtiger
Sätze uicht zu entnehmen, ob hier uur von der Gegenwart oder Vergangenheit
der russischen Literatur die Rede ist. Deun Rußland hatte eine literarische Ver¬
gangenheit, die sich in gar manchem Genre nicht nnr den stamnwerwandten sla¬
vischen, sondern auch allen europäischen Literaturschuleu kühn an die Seite setzen
darf. Und es war keine „Nachahmerei fremder Form", es war kräftige, natur¬
wüchsige Originalität, es war nicht blos „epische Anlage", sondern künstlerische
Festhaltung der Form, die sich in den Werken eines, Keilow und Marliuski (Be-
stuschew), in den unsterblichen Büchern eines Püscheln und Inkowsli in der schön¬
sten Vollendung aussprachen. Trotz der Unbeliebtheit des russischen Namens in
Deutschland, welche schou eine Reihe von Jahren andauert, haben diese Schrift¬
steller ihre deutschen Uebersetzer und die verdiente Würdigung ges»nden. Sie
sind voll der deutschen Kritik schon vielfach besprochen worden und ich hebe sie
nnr deswegen hervor, eben weil sie fern von jedem Nachahmungstriebe in ihrer
Ursprünglichkeit ihre Größe finden und weil sie im vollen Sinne des Wortes po¬
puläre, volköthmllliche Schriftsteller siud, und zum Eigenthume des Volkes gewor-
den, das sie in Sprüchwörtern im Munde führt, in den Dörfern, ans Mallgel
der gedruckten Bücher, in Abschriften der beliebtesten Gesänge und Fabeln heilig
aufbewahrt.

Auf Puschkiu habe ich uoch besonders hinzuweisen, uicht allein weil er in
allen seinen Werten den russischen Natioiialtypus mit Meisterhand festgehalten und
selbst im Eugen Eineginn die ihm vorschwebende Byronische Don Juan-Idee
so gut zu zersetzen wußte, daß kein fremdes Gewächs, aber nnr ein dnrch die
modernen Ideen blasirter, aber dnrch die den Sieg erringende kräftige innere
Natur aufgerüttelter Nüsse zur Erscheinung kömmt, was unsern Verfasser in
Bezug ans die geringe Befähigung des russischen Geistes ans andere Meinung
bringen sollte. Aber ich will Puschkiu als Beispiel anführen, wie sich bei deu
Russen außer für das Epische, auch für das Neindramatische nicht nnr Alllage,
sondern geniale Begabung finden kann. Leider wurde Alexander Puschkiu inmitten
seiner Laufbahn, als erst sein Talent sich nach der Gährung der Jugend geläutert
der Reife näherte, gewaltsam von dannen gerissen. Aber er hinterließ ein Werk,
das Product seiner literarischen Klärung, das uns die Ueberzeugung verschafft,
Rußland habe an Alexander Pnschkin noch den Verlust eines großen Dramatikers


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[0026] Vonderwiesen, eines trotz seines deutschen Namens dnrch und dnrch russischen Schriftstellers, der in und mit dem Volte lebte, zu seinen geistreichen Schöpfungen Charaktere aus dein Volke wählte und zugleich zur Heranbildung des Volkes bedeutend mitwirkte. Vonderwiesen'ö „Nidoroßl" (Muttersöhnchen) kann noch hente als Meisterstück gelten und liefert das treueste Gemälde der damaligen Zeit. Mit wenigen wegwerfenden Worten fertigt der Verfasser des vielgedachten Artikels die Gesammtbcstrebnngen der russischen Literatur ab. Es ist ein Unrecht, das ich einem Deutschen uicht zugetraut hätte. Es ist aus diesem Paar flüchtiger Sätze uicht zu entnehmen, ob hier uur von der Gegenwart oder Vergangenheit der russischen Literatur die Rede ist. Deun Rußland hatte eine literarische Ver¬ gangenheit, die sich in gar manchem Genre nicht nnr den stamnwerwandten sla¬ vischen, sondern auch allen europäischen Literaturschuleu kühn an die Seite setzen darf. Und es war keine „Nachahmerei fremder Form", es war kräftige, natur¬ wüchsige Originalität, es war nicht blos „epische Anlage", sondern künstlerische Festhaltung der Form, die sich in den Werken eines, Keilow und Marliuski (Be- stuschew), in den unsterblichen Büchern eines Püscheln und Inkowsli in der schön¬ sten Vollendung aussprachen. Trotz der Unbeliebtheit des russischen Namens in Deutschland, welche schou eine Reihe von Jahren andauert, haben diese Schrift¬ steller ihre deutschen Uebersetzer und die verdiente Würdigung ges»nden. Sie sind voll der deutschen Kritik schon vielfach besprochen worden und ich hebe sie nnr deswegen hervor, eben weil sie fern von jedem Nachahmungstriebe in ihrer Ursprünglichkeit ihre Größe finden und weil sie im vollen Sinne des Wortes po¬ puläre, volköthmllliche Schriftsteller siud, und zum Eigenthume des Volkes gewor- den, das sie in Sprüchwörtern im Munde führt, in den Dörfern, ans Mallgel der gedruckten Bücher, in Abschriften der beliebtesten Gesänge und Fabeln heilig aufbewahrt. Auf Puschkiu habe ich uoch besonders hinzuweisen, uicht allein weil er in allen seinen Werten den russischen Natioiialtypus mit Meisterhand festgehalten und selbst im Eugen Eineginn die ihm vorschwebende Byronische Don Juan-Idee so gut zu zersetzen wußte, daß kein fremdes Gewächs, aber nnr ein dnrch die modernen Ideen blasirter, aber dnrch die den Sieg erringende kräftige innere Natur aufgerüttelter Nüsse zur Erscheinung kömmt, was unsern Verfasser in Bezug ans die geringe Befähigung des russischen Geistes ans andere Meinung bringen sollte. Aber ich will Puschkiu als Beispiel anführen, wie sich bei deu Russen außer für das Epische, auch für das Neindramatische nicht nnr Alllage, sondern geniale Begabung finden kann. Leider wurde Alexander Puschkiu inmitten seiner Laufbahn, als erst sein Talent sich nach der Gährung der Jugend geläutert der Reife näherte, gewaltsam von dannen gerissen. Aber er hinterließ ein Werk, das Product seiner literarischen Klärung, das uns die Ueberzeugung verschafft, Rußland habe an Alexander Pnschkin noch den Verlust eines großen Dramatikers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/26>, abgerufen am 28.06.2024.