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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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erfaßt, an deren endlichen Iuslebeutretung arbeitet und das Volk, der Regierung
gleichsam freien Spielraum lassend, seine Muße für Kunstwerke benutzt. Nußland
ist uoch nie in einer solchen Lage gewesen, da die Regierung die Curatel über
das leider immer für unmündig erklärte Volk uicht einen Augenblick aufgegeben
hat. Trotzdem haben wir in Nußland Perioden nachzuweisen, wo der geistige
Aufschwung ans dem Volke kam und der Nüsse durch originelle Schöpfungen den
Beweis lieferte, daß er mehr sei, als "durch und durch .Körper, grobes
sinnliches Behagen, voller Tüchtigkeit zum Schlagen und Balgen,
ohne große Fähigkeit, schnell Eindrücke aufzunehmen und zu ver¬
arbeiten."

Es ist ein sehr hartes Urtheil, das der unbekannte Herr Verfasser über ein
ganzes Volk gefällt, und es gehört gar viel Material dazu, ein solches Urtheil
durch thatsächliche Beweise zu erhärten. Ju diesem Urtheile liegt, was der Ver¬
fasser gewiß uicht beabsichtigte, das höchste Lob der Negierung, denn wenn anch
in Rußland Alles wirklich nichts als "gew alt thätige Nachahmung fremder
Form" wäre, so gehört der genialste SchöpfuugSgeist dazu, auf diesen sinnlichen
Klotz, den man russisches Volk nennt, diesen ganzen Apparat von Kunst, Lite¬
ratur und Wissenschaft, den ganz wegzuleugnen doch allzu schwierig wäre, hinzu¬
pflanzen.

Ich will's versuchen, durch eine flüchtige Skizziruug der russische,: literar¬
historische" Entwicklung den Beweis zu liefern, daß wir in der russischen Literatur
uicht immer auf sclavische Nachahmung des Auslandes stoßen, daß es dem russi¬
schen Volke nicht an originellen Talenten gemangelt, die vou der Befähigung deS
russischen Volkes, Zeugniß ablegten. Schon unter der Regierung des Czaar
Alexius bildete sich der Bojare Matwejeff eine Truppe, die Lustspiele, Tragödien
und Ballele aufführte. Es wurden gewöhnlich Geschichten, als der verlorene
Sohn, Judith und Holofernes u. tgi. ans die Bühne gebracht. Peter der l.
ließ im Jahre 1700 in Moskau und Petersburg theatralische Vorstellungen geben.
Unter Elisabeth wurde 1756 zu Petersburg und 1759 zu Moskau ein Theater
erbaut. Unter Katharina U. war die Liebe zum Theater beim Volke bedeutend,
und es war nicht blos der Hof, der die dramatische Kunst emancipirte. Nußland
besaß zu dieser Zeit schou einen bedeutenden dramatischen Volksschriftsteller; Beweis
genug,,daß der Adel uicht allem, souderu auch das Volk das Theaterpnblieum
bildete. > Volt dieser Zeit datiren sich die Anfänge der russischen modernen Lite¬
ratur, die wohl in der Aristokratie, in einem Ferjawiu und Schischkow bedeutende
Stützen, aber im Volke, in dem Sohne eines Fischers, in Lomonossow ihren
eigentlichen Begründer fand. Das höhere Drama konnte nichts Bedeutendes
leisten, weil dem Volke das höhere sociale und staatliche Selbstbewußtsein fehlte,
das allein sähig ist, zu Charakterdramcn zu begeistern. Aber den besten Beweis
des rührigen, charakteristischen Volkslebens geben die Lustspiele des originellen


Gvenzboten. III. 1850. 68

erfaßt, an deren endlichen Iuslebeutretung arbeitet und das Volk, der Regierung
gleichsam freien Spielraum lassend, seine Muße für Kunstwerke benutzt. Nußland
ist uoch nie in einer solchen Lage gewesen, da die Regierung die Curatel über
das leider immer für unmündig erklärte Volk uicht einen Augenblick aufgegeben
hat. Trotzdem haben wir in Nußland Perioden nachzuweisen, wo der geistige
Aufschwung ans dem Volke kam und der Nüsse durch originelle Schöpfungen den
Beweis lieferte, daß er mehr sei, als „durch und durch .Körper, grobes
sinnliches Behagen, voller Tüchtigkeit zum Schlagen und Balgen,
ohne große Fähigkeit, schnell Eindrücke aufzunehmen und zu ver¬
arbeiten."

Es ist ein sehr hartes Urtheil, das der unbekannte Herr Verfasser über ein
ganzes Volk gefällt, und es gehört gar viel Material dazu, ein solches Urtheil
durch thatsächliche Beweise zu erhärten. Ju diesem Urtheile liegt, was der Ver¬
fasser gewiß uicht beabsichtigte, das höchste Lob der Negierung, denn wenn anch
in Rußland Alles wirklich nichts als „gew alt thätige Nachahmung fremder
Form" wäre, so gehört der genialste SchöpfuugSgeist dazu, auf diesen sinnlichen
Klotz, den man russisches Volk nennt, diesen ganzen Apparat von Kunst, Lite¬
ratur und Wissenschaft, den ganz wegzuleugnen doch allzu schwierig wäre, hinzu¬
pflanzen.

Ich will's versuchen, durch eine flüchtige Skizziruug der russische,: literar¬
historische« Entwicklung den Beweis zu liefern, daß wir in der russischen Literatur
uicht immer auf sclavische Nachahmung des Auslandes stoßen, daß es dem russi¬
schen Volke nicht an originellen Talenten gemangelt, die vou der Befähigung deS
russischen Volkes, Zeugniß ablegten. Schon unter der Regierung des Czaar
Alexius bildete sich der Bojare Matwejeff eine Truppe, die Lustspiele, Tragödien
und Ballele aufführte. Es wurden gewöhnlich Geschichten, als der verlorene
Sohn, Judith und Holofernes u. tgi. ans die Bühne gebracht. Peter der l.
ließ im Jahre 1700 in Moskau und Petersburg theatralische Vorstellungen geben.
Unter Elisabeth wurde 1756 zu Petersburg und 1759 zu Moskau ein Theater
erbaut. Unter Katharina U. war die Liebe zum Theater beim Volke bedeutend,
und es war nicht blos der Hof, der die dramatische Kunst emancipirte. Nußland
besaß zu dieser Zeit schou einen bedeutenden dramatischen Volksschriftsteller; Beweis
genug,,daß der Adel uicht allem, souderu auch das Volk das Theaterpnblieum
bildete. > Volt dieser Zeit datiren sich die Anfänge der russischen modernen Lite¬
ratur, die wohl in der Aristokratie, in einem Ferjawiu und Schischkow bedeutende
Stützen, aber im Volke, in dem Sohne eines Fischers, in Lomonossow ihren
eigentlichen Begründer fand. Das höhere Drama konnte nichts Bedeutendes
leisten, weil dem Volke das höhere sociale und staatliche Selbstbewußtsein fehlte,
das allein sähig ist, zu Charakterdramcn zu begeistern. Aber den besten Beweis
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[0025] erfaßt, an deren endlichen Iuslebeutretung arbeitet und das Volk, der Regierung gleichsam freien Spielraum lassend, seine Muße für Kunstwerke benutzt. Nußland ist uoch nie in einer solchen Lage gewesen, da die Regierung die Curatel über das leider immer für unmündig erklärte Volk uicht einen Augenblick aufgegeben hat. Trotzdem haben wir in Nußland Perioden nachzuweisen, wo der geistige Aufschwung ans dem Volke kam und der Nüsse durch originelle Schöpfungen den Beweis lieferte, daß er mehr sei, als „durch und durch .Körper, grobes sinnliches Behagen, voller Tüchtigkeit zum Schlagen und Balgen, ohne große Fähigkeit, schnell Eindrücke aufzunehmen und zu ver¬ arbeiten." Es ist ein sehr hartes Urtheil, das der unbekannte Herr Verfasser über ein ganzes Volk gefällt, und es gehört gar viel Material dazu, ein solches Urtheil durch thatsächliche Beweise zu erhärten. Ju diesem Urtheile liegt, was der Ver¬ fasser gewiß uicht beabsichtigte, das höchste Lob der Negierung, denn wenn anch in Rußland Alles wirklich nichts als „gew alt thätige Nachahmung fremder Form" wäre, so gehört der genialste SchöpfuugSgeist dazu, auf diesen sinnlichen Klotz, den man russisches Volk nennt, diesen ganzen Apparat von Kunst, Lite¬ ratur und Wissenschaft, den ganz wegzuleugnen doch allzu schwierig wäre, hinzu¬ pflanzen. Ich will's versuchen, durch eine flüchtige Skizziruug der russische,: literar¬ historische« Entwicklung den Beweis zu liefern, daß wir in der russischen Literatur uicht immer auf sclavische Nachahmung des Auslandes stoßen, daß es dem russi¬ schen Volke nicht an originellen Talenten gemangelt, die vou der Befähigung deS russischen Volkes, Zeugniß ablegten. Schon unter der Regierung des Czaar Alexius bildete sich der Bojare Matwejeff eine Truppe, die Lustspiele, Tragödien und Ballele aufführte. Es wurden gewöhnlich Geschichten, als der verlorene Sohn, Judith und Holofernes u. tgi. ans die Bühne gebracht. Peter der l. ließ im Jahre 1700 in Moskau und Petersburg theatralische Vorstellungen geben. Unter Elisabeth wurde 1756 zu Petersburg und 1759 zu Moskau ein Theater erbaut. Unter Katharina U. war die Liebe zum Theater beim Volke bedeutend, und es war nicht blos der Hof, der die dramatische Kunst emancipirte. Nußland besaß zu dieser Zeit schou einen bedeutenden dramatischen Volksschriftsteller; Beweis genug,,daß der Adel uicht allem, souderu auch das Volk das Theaterpnblieum bildete. > Volt dieser Zeit datiren sich die Anfänge der russischen modernen Lite¬ ratur, die wohl in der Aristokratie, in einem Ferjawiu und Schischkow bedeutende Stützen, aber im Volke, in dem Sohne eines Fischers, in Lomonossow ihren eigentlichen Begründer fand. Das höhere Drama konnte nichts Bedeutendes leisten, weil dem Volke das höhere sociale und staatliche Selbstbewußtsein fehlte, das allein sähig ist, zu Charakterdramcn zu begeistern. Aber den besten Beweis des rührigen, charakteristischen Volkslebens geben die Lustspiele des originellen Gvenzboten. III. 1850. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/25>, abgerufen am 01.07.2024.