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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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zu beweinen. Sein Boris Godnnow, der eine vollendete Tragödie, das erste
Glied eines dramatischen Cyklus hatte bilden sollen, das die wichtigste Geschichts¬
epoche des rnsstschen Reiches umfaßte, steht als Ganzes und Fragment zugleich
da, dessen kleinste Theilchen aber deu vollendeten Meister beurkunden. Die rus¬
sische Literatur besii,;t uur diese eine wirklich große Tragödie.

Im Lustspiele hat die russische Literatur auch uur sehr wenig Vorzügliches
aufzuweisen, doch dieses Wenige ist keine ausländische Nachahmung, es ist aus
russischem Boden erwachsen, die Idee, der Stoff wie die Durchführung sind
gleich russisch und doch muß dem einen dieser Werke die künstlerische Vollendung
zugesprochen werden. Es heißt Göre ot nun (Sorge aus Verstand) und der
Verfasser Gribojedoff liefert darin ein meisterhaftes Bild der Moskaner aristo-
kratischen Gesellschaft mit alleil ihren Gebrechen und Lächerlichkeiten, wobei die
beißendste Satyre die Geißel schwingt und die komischsten Situationen das In¬
teresse des Zuschauers in fortwährender Spannung erhalten. Rußland hat ein
wahres Unglück mit seinen Dichtern. Es ist, als ob das Schicksal sich für die
gewaltsame Unterdrückung der Geister dadurch rächen wollte, daß es dem Lande
geniale Personen schenkt, die es ihm wieder, sobald sie die Flügel zu entfalten
beginnen und deu engen Raum zur Entwicklung bemerken, entzieht. Puschkin
starb im Duelle, Marlinski siel von der Kugel eines Tscherkessen auf dem Kaukasus,
Gribojedow wurde als Mitglied der russischen Gesandtschaft in Persien nieder¬
gemetzelt, Lermentow, ein junger Dichter, der die kühnsten Erwartungen übertroffen
hätte, fiel gleichfalls als Opfer eines Zweikampfes. Ein nicht welliger genialer
Volksschriftsteller, Nikolaus Gogol, hat mit einem Male seine geistige Rich¬
tung geändert lind ist ans einem aufgeweckten, humoristischen, die Gebrechen der
Gesellschaft und des Beamtenwesenö mit kaustischer Schärfe geißelnden Literaten
ein pietistischer Frömmler geworden, also sür die Literatur als abgestorben zu
betrachten. Gogol gehörte dem Volke all, er hat nur für dasselbe geschriebell
und sein Revisor wie seiue todten Seelen siud das Gemeingut des Volkes
geworden. Im Revisor, einem an die Posse grenzenden Lustspiele, wird die Be¬
stechlichkeit der Beamten mit drastischer Komik vorgeführt und dadurch ein leben¬
diges Gemälde des Lebens und Treibens in eiuer russischen Kreisstadt geliefert.
Der Revisor darf anf keiner Bühne des Reiches fehlen und selbst der Kaiser soll
ihn mit Vergnügen sehen. Die todten Seelen haben in Rußland als das
treffendste Bild der niedrigen und mittlern Gesellschaftsclassen, wie dnrch die frei¬
müthige Besprechung der innern Gebrechen des Landes in alleil Zweigen der
Bureaukratie und in vielen höhern Kreisel! in Rußland beinahe so viel Aufsehen
gemacht als die NMöros 6o Paris, und der erste Theil dieses Romans, voll dem
der zweite, sei es durch das Verbot der Censur, sei es durch die ungeänderte
Geistesrichtung des Verfassers, uicht mehr erschienen ist, hat dem Verleger beinahe
10,000 Silberrubel reinen Gewinn eingetragen. Sind das Beweise für das


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zu beweinen. Sein Boris Godnnow, der eine vollendete Tragödie, das erste
Glied eines dramatischen Cyklus hatte bilden sollen, das die wichtigste Geschichts¬
epoche des rnsstschen Reiches umfaßte, steht als Ganzes und Fragment zugleich
da, dessen kleinste Theilchen aber deu vollendeten Meister beurkunden. Die rus¬
sische Literatur besii,;t uur diese eine wirklich große Tragödie.

Im Lustspiele hat die russische Literatur auch uur sehr wenig Vorzügliches
aufzuweisen, doch dieses Wenige ist keine ausländische Nachahmung, es ist aus
russischem Boden erwachsen, die Idee, der Stoff wie die Durchführung sind
gleich russisch und doch muß dem einen dieser Werke die künstlerische Vollendung
zugesprochen werden. Es heißt Göre ot nun (Sorge aus Verstand) und der
Verfasser Gribojedoff liefert darin ein meisterhaftes Bild der Moskaner aristo-
kratischen Gesellschaft mit alleil ihren Gebrechen und Lächerlichkeiten, wobei die
beißendste Satyre die Geißel schwingt und die komischsten Situationen das In¬
teresse des Zuschauers in fortwährender Spannung erhalten. Rußland hat ein
wahres Unglück mit seinen Dichtern. Es ist, als ob das Schicksal sich für die
gewaltsame Unterdrückung der Geister dadurch rächen wollte, daß es dem Lande
geniale Personen schenkt, die es ihm wieder, sobald sie die Flügel zu entfalten
beginnen und deu engen Raum zur Entwicklung bemerken, entzieht. Puschkin
starb im Duelle, Marlinski siel von der Kugel eines Tscherkessen auf dem Kaukasus,
Gribojedow wurde als Mitglied der russischen Gesandtschaft in Persien nieder¬
gemetzelt, Lermentow, ein junger Dichter, der die kühnsten Erwartungen übertroffen
hätte, fiel gleichfalls als Opfer eines Zweikampfes. Ein nicht welliger genialer
Volksschriftsteller, Nikolaus Gogol, hat mit einem Male seine geistige Rich¬
tung geändert lind ist ans einem aufgeweckten, humoristischen, die Gebrechen der
Gesellschaft und des Beamtenwesenö mit kaustischer Schärfe geißelnden Literaten
ein pietistischer Frömmler geworden, also sür die Literatur als abgestorben zu
betrachten. Gogol gehörte dem Volke all, er hat nur für dasselbe geschriebell
und sein Revisor wie seiue todten Seelen siud das Gemeingut des Volkes
geworden. Im Revisor, einem an die Posse grenzenden Lustspiele, wird die Be¬
stechlichkeit der Beamten mit drastischer Komik vorgeführt und dadurch ein leben¬
diges Gemälde des Lebens und Treibens in eiuer russischen Kreisstadt geliefert.
Der Revisor darf anf keiner Bühne des Reiches fehlen und selbst der Kaiser soll
ihn mit Vergnügen sehen. Die todten Seelen haben in Rußland als das
treffendste Bild der niedrigen und mittlern Gesellschaftsclassen, wie dnrch die frei¬
müthige Besprechung der innern Gebrechen des Landes in alleil Zweigen der
Bureaukratie und in vielen höhern Kreisel! in Rußland beinahe so viel Aufsehen
gemacht als die NMöros 6o Paris, und der erste Theil dieses Romans, voll dem
der zweite, sei es durch das Verbot der Censur, sei es durch die ungeänderte
Geistesrichtung des Verfassers, uicht mehr erschienen ist, hat dem Verleger beinahe
10,000 Silberrubel reinen Gewinn eingetragen. Sind das Beweise für das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/27>, abgerufen am 23.06.2024.