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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Der zweite Vorwurf berührt mehr das Wesen. Es ist kein Verhältniß
zwischen dem eigentlichen Gegenstand (der häuslichen Misöre, den Leiden der Dienst¬
boten) und den aufgewandten Mitteln. Wir empfinden keine innere Nothwendigkeit,
wir sehen nnr das Walten des Zufalls. Was Hebbel sehr richtig gegen das ge¬
wöhnliche bürgerliche Trauerspiel sagt: -- "Daraus geht viel Trauriges, aber
nichts Tragisches hervor, denn das Tragische muß als ein vou vorn herein mit
Nothwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod, mit dem Leben selbst Gesetztes
und gar uicht zu Umgehendes auftreten; sobald man sich mit einem: Hätte er
(dreißig Thaler gehabt) oder einem Wäre sie (ein Fräulein gewesen) helfen kann,
wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial." -- trifft ihn selber und seiue
Compositionen. Denn auch hier kauu mau sich mit einem Hätte sie (Wasser
bei der Hand gehabt, das Feuer zu löschen), Wäre er (nicht betrunken gewesen)
helfen, und der Eindruck wird, zwar nicht trivial, aber beleidigend, denn das
Schreckliche, in dem der Zufall waltet, beleidigt. -- Hebbel hätte die Greuel uoch
mehr häufen können, hätte er z. B. eine schwangere Fran dnrch den Schreck über
die Flamme zu eiuer vorzeitigen Niederkunft kommen lassen und darüber wahn¬
sinnig werden. -- Er ist übrigens in diesen Pragmatismus des Zufalls so ver¬
liebt, daß er das Feuermotiv in einer zweiten Auflage hat erscheinen lassen, in
der Erzählung: die Kuh. Ein Wiener Bürger will eine Kuh kaufen, er hat zu
diesem Zweck Banknoten gespart, ein kleiner Junge verbrennt diese ans Unbe¬
dacht, darüber in Wuth, schlägt ihn der Bürger mit dem Kopf gegen die Wand,
daß das Gehirn heranöspritzt, dann thut es ihm wieder leid, er geht auf den
Boden und häugt sich auf, die Frau kommt herauf, stößt an ein Paar baumelnde
Beine, erschrickt, holt Licht, sieht ihren Mann, fällt in Ohnmacht, das Licht zündet
das Hans an, sie verbrennt, und nur die Kuh bleibt übrig, um über den Unter¬
gang des Hauses das Klagelied anzustimmen. -- Ganz ähnlich ist es in unserm:
Trauerspiel in Sicilien. Erste Scene. Wald. Zwei Gensdarmen unter¬
halten sich über verschiedene Dinge, nnter andern darüber, daß sie bei guter Ge¬
legenheit anch wohl stehlen würden. -- 2. Angiolina tritt auf; sie ist ihrem
Vater, der sie mit einem alten Manne (dem schon beschriebenen Herrn Gregorio)
vermählen will, entlaufen und will mit ihrem Geliebten Sebastian entfliehen. --
3. Die, beideu Gensdarmen plündern sie und schlagen sie darauf, um uicht ver¬
rathen zu werden, todt. Eine Stimme von draußen ruft: Oh! 4. Sebastian
erscheint, jammert, die Gensdarmen springen hervor und sagen: Dn bist der
Mörder. Ihm ist Alles so gleichgültig geworden, daß er nichts dagegen einwendet.
5. Der Vater kommt mit Gregorio, die Tochter zu suchen. Die Gensdarmen
bringen ihre Klage vor, verwickeln sich aber schou in Widersprüche. 6. Ein
Bauer erscheint. Er hat Aepfel gestohlen, ist vor den Gensdarmen ans den
Baum geflüchtet, hat die Sache mit angesehen, jeues Oh ausgestoßen, und wäre
dann vor Schreck beinahe eingeschlafen. Mit seinem Zeugniß ist die Sache


Der zweite Vorwurf berührt mehr das Wesen. Es ist kein Verhältniß
zwischen dem eigentlichen Gegenstand (der häuslichen Misöre, den Leiden der Dienst¬
boten) und den aufgewandten Mitteln. Wir empfinden keine innere Nothwendigkeit,
wir sehen nnr das Walten des Zufalls. Was Hebbel sehr richtig gegen das ge¬
wöhnliche bürgerliche Trauerspiel sagt: — „Daraus geht viel Trauriges, aber
nichts Tragisches hervor, denn das Tragische muß als ein vou vorn herein mit
Nothwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod, mit dem Leben selbst Gesetztes
und gar uicht zu Umgehendes auftreten; sobald man sich mit einem: Hätte er
(dreißig Thaler gehabt) oder einem Wäre sie (ein Fräulein gewesen) helfen kann,
wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial." — trifft ihn selber und seiue
Compositionen. Denn auch hier kauu mau sich mit einem Hätte sie (Wasser
bei der Hand gehabt, das Feuer zu löschen), Wäre er (nicht betrunken gewesen)
helfen, und der Eindruck wird, zwar nicht trivial, aber beleidigend, denn das
Schreckliche, in dem der Zufall waltet, beleidigt. — Hebbel hätte die Greuel uoch
mehr häufen können, hätte er z. B. eine schwangere Fran dnrch den Schreck über
die Flamme zu eiuer vorzeitigen Niederkunft kommen lassen und darüber wahn¬
sinnig werden. — Er ist übrigens in diesen Pragmatismus des Zufalls so ver¬
liebt, daß er das Feuermotiv in einer zweiten Auflage hat erscheinen lassen, in
der Erzählung: die Kuh. Ein Wiener Bürger will eine Kuh kaufen, er hat zu
diesem Zweck Banknoten gespart, ein kleiner Junge verbrennt diese ans Unbe¬
dacht, darüber in Wuth, schlägt ihn der Bürger mit dem Kopf gegen die Wand,
daß das Gehirn heranöspritzt, dann thut es ihm wieder leid, er geht auf den
Boden und häugt sich auf, die Frau kommt herauf, stößt an ein Paar baumelnde
Beine, erschrickt, holt Licht, sieht ihren Mann, fällt in Ohnmacht, das Licht zündet
das Hans an, sie verbrennt, und nur die Kuh bleibt übrig, um über den Unter¬
gang des Hauses das Klagelied anzustimmen. — Ganz ähnlich ist es in unserm:
Trauerspiel in Sicilien. Erste Scene. Wald. Zwei Gensdarmen unter¬
halten sich über verschiedene Dinge, nnter andern darüber, daß sie bei guter Ge¬
legenheit anch wohl stehlen würden. — 2. Angiolina tritt auf; sie ist ihrem
Vater, der sie mit einem alten Manne (dem schon beschriebenen Herrn Gregorio)
vermählen will, entlaufen und will mit ihrem Geliebten Sebastian entfliehen. —
3. Die, beideu Gensdarmen plündern sie und schlagen sie darauf, um uicht ver¬
rathen zu werden, todt. Eine Stimme von draußen ruft: Oh! 4. Sebastian
erscheint, jammert, die Gensdarmen springen hervor und sagen: Dn bist der
Mörder. Ihm ist Alles so gleichgültig geworden, daß er nichts dagegen einwendet.
5. Der Vater kommt mit Gregorio, die Tochter zu suchen. Die Gensdarmen
bringen ihre Klage vor, verwickeln sich aber schou in Widersprüche. 6. Ein
Bauer erscheint. Er hat Aepfel gestohlen, ist vor den Gensdarmen ans den
Baum geflüchtet, hat die Sache mit angesehen, jeues Oh ausgestoßen, und wäre
dann vor Schreck beinahe eingeschlafen. Mit seinem Zeugniß ist die Sache


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[0216] Der zweite Vorwurf berührt mehr das Wesen. Es ist kein Verhältniß zwischen dem eigentlichen Gegenstand (der häuslichen Misöre, den Leiden der Dienst¬ boten) und den aufgewandten Mitteln. Wir empfinden keine innere Nothwendigkeit, wir sehen nnr das Walten des Zufalls. Was Hebbel sehr richtig gegen das ge¬ wöhnliche bürgerliche Trauerspiel sagt: — „Daraus geht viel Trauriges, aber nichts Tragisches hervor, denn das Tragische muß als ein vou vorn herein mit Nothwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod, mit dem Leben selbst Gesetztes und gar uicht zu Umgehendes auftreten; sobald man sich mit einem: Hätte er (dreißig Thaler gehabt) oder einem Wäre sie (ein Fräulein gewesen) helfen kann, wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial." — trifft ihn selber und seiue Compositionen. Denn auch hier kauu mau sich mit einem Hätte sie (Wasser bei der Hand gehabt, das Feuer zu löschen), Wäre er (nicht betrunken gewesen) helfen, und der Eindruck wird, zwar nicht trivial, aber beleidigend, denn das Schreckliche, in dem der Zufall waltet, beleidigt. — Hebbel hätte die Greuel uoch mehr häufen können, hätte er z. B. eine schwangere Fran dnrch den Schreck über die Flamme zu eiuer vorzeitigen Niederkunft kommen lassen und darüber wahn¬ sinnig werden. — Er ist übrigens in diesen Pragmatismus des Zufalls so ver¬ liebt, daß er das Feuermotiv in einer zweiten Auflage hat erscheinen lassen, in der Erzählung: die Kuh. Ein Wiener Bürger will eine Kuh kaufen, er hat zu diesem Zweck Banknoten gespart, ein kleiner Junge verbrennt diese ans Unbe¬ dacht, darüber in Wuth, schlägt ihn der Bürger mit dem Kopf gegen die Wand, daß das Gehirn heranöspritzt, dann thut es ihm wieder leid, er geht auf den Boden und häugt sich auf, die Frau kommt herauf, stößt an ein Paar baumelnde Beine, erschrickt, holt Licht, sieht ihren Mann, fällt in Ohnmacht, das Licht zündet das Hans an, sie verbrennt, und nur die Kuh bleibt übrig, um über den Unter¬ gang des Hauses das Klagelied anzustimmen. — Ganz ähnlich ist es in unserm: Trauerspiel in Sicilien. Erste Scene. Wald. Zwei Gensdarmen unter¬ halten sich über verschiedene Dinge, nnter andern darüber, daß sie bei guter Ge¬ legenheit anch wohl stehlen würden. — 2. Angiolina tritt auf; sie ist ihrem Vater, der sie mit einem alten Manne (dem schon beschriebenen Herrn Gregorio) vermählen will, entlaufen und will mit ihrem Geliebten Sebastian entfliehen. — 3. Die, beideu Gensdarmen plündern sie und schlagen sie darauf, um uicht ver¬ rathen zu werden, todt. Eine Stimme von draußen ruft: Oh! 4. Sebastian erscheint, jammert, die Gensdarmen springen hervor und sagen: Dn bist der Mörder. Ihm ist Alles so gleichgültig geworden, daß er nichts dagegen einwendet. 5. Der Vater kommt mit Gregorio, die Tochter zu suchen. Die Gensdarmen bringen ihre Klage vor, verwickeln sich aber schou in Widersprüche. 6. Ein Bauer erscheint. Er hat Aepfel gestohlen, ist vor den Gensdarmen ans den Baum geflüchtet, hat die Sache mit angesehen, jeues Oh ausgestoßen, und wäre dann vor Schreck beinahe eingeschlafen. Mit seinem Zeugniß ist die Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/216>, abgerufen am 24.07.2024.