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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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schreckhaft auffahrend, mit verstärkten!, ja unnatürlichem Eifer fortsetzte." Abends
holt sie Licht; ihr Bräutigam, der sich aus Aerger betrunken hat, besucht sie,
und fordert sie ans, trotz des Verbots mit ihm ans die Kirmeß zu gehen. Sie
weigert sich, er geht wüthend ab und erklärt, er wolle sie uicht mehr sehn. Das
Licht fallt unversehens in den Flachs, die Kammer brennt, sie sucht vergebens
zu löschen, da hört sie ihres Bräutigams Stimme, der ein lustiges Lied singt; sie
ruft: "El was loses' ich! laß! laß!" und eilte, die Thür mit Macht hinter sich
zuwerfend, mit einem gräßlichen Lachen hinaus ihm nach. Bald aber sank sie
kraftlos, halb ohnmächtig zusammen, und drückte lant stöhnend ihr Gesicht in's
kalte nasse Gras. So lag sie lange Zeit. Da ertönten die Feuerglocken. Sie
richtete sich halb auf, doch sah sie sich nicht um; sie legte sich wieder der Länge
nach am Boden nieder, ihr war, als ob sie schlafen könne, doch schreckte sie im
nächsten Augenblick ans diesem, dein Tod ähnlichen Zustand das Gespräch zweier
Vorübergehenden: es brennt im Dorf!" -- Sie stürzt hin; Brandscenen. --
"Anne, mit der Tollkühnheit der Verzweiflung, weinend, schreiend, sich die Brust
zerschlagend, dann wieder lachend, stürzte sich in jede Gefahr, rettete, löschte, und
war Allen zugleich Gegenstand des Erstaunens, der Verwunderung und unheim¬
liches Räthsel. Zuletzt sah man sie in einem brennenden Hanse ans die Knie
sinken. Da rief der Pfarrer: Um Gottes willen, rettet das brave Mädchen!
Anne, seine Worte hörend, blockte ihm, noch immer auf den Knien
liegend, mit einer Gebährde des heftigsten Abscheus die Zunge
entgegen und lachte ihn wahnsinnig an." -- Endlich verbrennt sie. --
"Als der Herr am andern Morgen erfuhr, was sich mit Anne begeben halte,
befahl er, ihre Gebeine aus dem Schutt herauszusuchen und sie ans dem Schind-
anger zu verscharren. Dies geschah." -- 1'mi8. -- Es ist unglaublich, wie viel
Eoqnettcrie in diesem: "Dies geschah" sich versteckt; eine ellenlange Polemik
gegen die empfindsamen Belletristen, welche diese Gelegenheit nicht vorübergehen
lassen würden, zu klagen und zu ächzen.

Es ist in dieser Geschichte, die uns in nueo ein Bild von der Conception
des Dichters überhaupt gibt, zweierlei zu tadeln -- abgesehen davon, das; eine
Häufung von Gräueln immer ein sehr zweifelhafter Gegenstand der Kunst ist.

Einmal in Beziehung auf die Form. Wenn fürchterliche Geschichten anf uns
wirken sollen, so müssen wir Zeit haben, den Eindruck in uns zu verarbeiten.
Eine ununterbrochene Folge voll Schauder stumpft uns ab, wir werden gleich¬
gültig und lachen zuletzt. Es ist im Leben nicht anders. Wenigstens ist das
Entsetzen kein wohlthuendes, ist unheimlich, wir möchten immer fragen: ist das
Spaß oder Ernst? -- Es trifft dieser Vorwurf sämmtliche Stücke Hebbel's, selbst
die Maria Magdalena, obgleich hier dnrch die vortreffliche Charakteristik der Ge¬
müthsbewegung der Lapidarstil der Fabel gemildert wird. Es sind nicht blos
mehr Hieroglyphen.


schreckhaft auffahrend, mit verstärkten!, ja unnatürlichem Eifer fortsetzte." Abends
holt sie Licht; ihr Bräutigam, der sich aus Aerger betrunken hat, besucht sie,
und fordert sie ans, trotz des Verbots mit ihm ans die Kirmeß zu gehen. Sie
weigert sich, er geht wüthend ab und erklärt, er wolle sie uicht mehr sehn. Das
Licht fallt unversehens in den Flachs, die Kammer brennt, sie sucht vergebens
zu löschen, da hört sie ihres Bräutigams Stimme, der ein lustiges Lied singt; sie
ruft: „El was loses' ich! laß! laß!" und eilte, die Thür mit Macht hinter sich
zuwerfend, mit einem gräßlichen Lachen hinaus ihm nach. Bald aber sank sie
kraftlos, halb ohnmächtig zusammen, und drückte lant stöhnend ihr Gesicht in's
kalte nasse Gras. So lag sie lange Zeit. Da ertönten die Feuerglocken. Sie
richtete sich halb auf, doch sah sie sich nicht um; sie legte sich wieder der Länge
nach am Boden nieder, ihr war, als ob sie schlafen könne, doch schreckte sie im
nächsten Augenblick ans diesem, dein Tod ähnlichen Zustand das Gespräch zweier
Vorübergehenden: es brennt im Dorf!" — Sie stürzt hin; Brandscenen. —
„Anne, mit der Tollkühnheit der Verzweiflung, weinend, schreiend, sich die Brust
zerschlagend, dann wieder lachend, stürzte sich in jede Gefahr, rettete, löschte, und
war Allen zugleich Gegenstand des Erstaunens, der Verwunderung und unheim¬
liches Räthsel. Zuletzt sah man sie in einem brennenden Hanse ans die Knie
sinken. Da rief der Pfarrer: Um Gottes willen, rettet das brave Mädchen!
Anne, seine Worte hörend, blockte ihm, noch immer auf den Knien
liegend, mit einer Gebährde des heftigsten Abscheus die Zunge
entgegen und lachte ihn wahnsinnig an." — Endlich verbrennt sie. —
„Als der Herr am andern Morgen erfuhr, was sich mit Anne begeben halte,
befahl er, ihre Gebeine aus dem Schutt herauszusuchen und sie ans dem Schind-
anger zu verscharren. Dies geschah." — 1'mi8. — Es ist unglaublich, wie viel
Eoqnettcrie in diesem: „Dies geschah" sich versteckt; eine ellenlange Polemik
gegen die empfindsamen Belletristen, welche diese Gelegenheit nicht vorübergehen
lassen würden, zu klagen und zu ächzen.

Es ist in dieser Geschichte, die uns in nueo ein Bild von der Conception
des Dichters überhaupt gibt, zweierlei zu tadeln — abgesehen davon, das; eine
Häufung von Gräueln immer ein sehr zweifelhafter Gegenstand der Kunst ist.

Einmal in Beziehung auf die Form. Wenn fürchterliche Geschichten anf uns
wirken sollen, so müssen wir Zeit haben, den Eindruck in uns zu verarbeiten.
Eine ununterbrochene Folge voll Schauder stumpft uns ab, wir werden gleich¬
gültig und lachen zuletzt. Es ist im Leben nicht anders. Wenigstens ist das
Entsetzen kein wohlthuendes, ist unheimlich, wir möchten immer fragen: ist das
Spaß oder Ernst? — Es trifft dieser Vorwurf sämmtliche Stücke Hebbel's, selbst
die Maria Magdalena, obgleich hier dnrch die vortreffliche Charakteristik der Ge¬
müthsbewegung der Lapidarstil der Fabel gemildert wird. Es sind nicht blos
mehr Hieroglyphen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/215>, abgerufen am 23.07.2024.