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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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erledigt. -- Ich bemerke, daß dieser Nahmen nur dazu dient, eine Menge char-
girter Charaktere aufzuführen, deren jeder eine Portion unnöthiger Greuel in der
Tasche hat, und nach der Reihe producirt; Gregorio ist schon erwähnt, der Vater
und die beiden Gensdarmen sind von demselben Kaliber. -- Wenn man früher
vollständig im Unklaren war, was das Ganze sollte, so gibt nun Hebbel in
seiner Dedication an Th. Nötscher darüber Aufklärung. Zunächst ist es eine
wahre Anekdote, die ihm imponirt hat. Beiläufig, schou diese Symbolisirung der
gemeinen Empirie ist charakteristisch für Hebbel. Was hat.ihm aber daran impo¬
nirt? "Wenn sich die Diener der Gerechtigkeit in Mörder verwandeln, und der
Verbrecher, der sich zitternd vor ihnen verkroch, ihr Ankläger wird, so ist das eben
so furchtbar als barock, aber ebenso barock als furchtbar. Man möchte vor Grausen
erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man möchte sich durch ein Gelächter
von dem ganzen unheimlichen Eindruck befreie", doch ein Frösteln beschleicht uns
wieder, ehe uns das gelingt." -- Ist das ein natürliches, gesundes Empfinden?
Jene Art von Geschichten ist ja schon in allen möglichen Nmmenmährchcn abge¬
leiert, als Zeichen von dem sichtbaren Walten einer höhern Fügung, und was
daran barock oder grausenvoll sein soll, kann man nur im Fieber herausfinden"
Hatte ich Unrecht,, eine poetische Individualität, die so empfindet, krankhaft zu
nennen? -- Aber die Erklärung ist nicht einmal wahr, wenigstens nur halb wahr;
denn im Gedicht selbst' ist ans diesen Umstand nicht der geringste Accent gelegt,
die eigentliche Moral des Stückes ist in dem Schlich ausgedrückt: "Gregorio.
Wie jählings kommt der Tod! (schüttelt sich.)" -- Die Erklärung ist nur dazu
bestimmt, Herrn Nötscher aufzufordern, eine neue Kunstgattung philosophisch zu
begründen: die Tragikomödie. "Sie ergibt sich überall, wo ein tragisches Ge¬
schick in nntragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende
und untergehende Mensch, auf der andern jedoch nicht die berechtigte sittliche
Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende'
vou Opfern hinnntcrwürgt, ohne ein einziges zu verdienen." -- Ich zweifle
nicht daran, daß Herr Rötscher bereitwillig an diese Arbeit gehen wird, glaube
aber um so mehr aus das Unkünstlerische einer solchen Kunstgattung hinweisen zu
müssen, da mit jener Definition eigentlich nicht blos das "Trauerspiel in Sicilien",
sondern sämmtliche Dramen Hebbel's gemeint sind. Seine Muse ist überall die
Hyäne, die Leichen aufwühlt; seiue ganze Welt von Leichenduft erfüllt. Ich
glaube mit Goethe, daß die Welt kein Tummelplatz für Larven sein darf, am
wenigsten die Welt der Kunst. -- Abgesehen davon, daß Hebbel in seiner Tragi¬
komödie sein Versprechen nicht einmal erfüllt, denn wir lernen nicht die sittliche
Grundlage der Zeit als einen Sumpf fauler Verhältnisse kennen, sondern nur
eiuzelue unsittliche Menschen, deren es aller Orten und zu allen Zeiten gibt, so
scheint mir, anch ideal gefaßt, jene Aufgabe keine Aufgabe der Kunst zu sein.
Ich halte es z. B. sür verwerflich, wenn Dumas in seinem Caligula, oder


Grenzboten. IV. 1850. 92

erledigt. — Ich bemerke, daß dieser Nahmen nur dazu dient, eine Menge char-
girter Charaktere aufzuführen, deren jeder eine Portion unnöthiger Greuel in der
Tasche hat, und nach der Reihe producirt; Gregorio ist schon erwähnt, der Vater
und die beiden Gensdarmen sind von demselben Kaliber. — Wenn man früher
vollständig im Unklaren war, was das Ganze sollte, so gibt nun Hebbel in
seiner Dedication an Th. Nötscher darüber Aufklärung. Zunächst ist es eine
wahre Anekdote, die ihm imponirt hat. Beiläufig, schou diese Symbolisirung der
gemeinen Empirie ist charakteristisch für Hebbel. Was hat.ihm aber daran impo¬
nirt? „Wenn sich die Diener der Gerechtigkeit in Mörder verwandeln, und der
Verbrecher, der sich zitternd vor ihnen verkroch, ihr Ankläger wird, so ist das eben
so furchtbar als barock, aber ebenso barock als furchtbar. Man möchte vor Grausen
erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man möchte sich durch ein Gelächter
von dem ganzen unheimlichen Eindruck befreie«, doch ein Frösteln beschleicht uns
wieder, ehe uns das gelingt." — Ist das ein natürliches, gesundes Empfinden?
Jene Art von Geschichten ist ja schon in allen möglichen Nmmenmährchcn abge¬
leiert, als Zeichen von dem sichtbaren Walten einer höhern Fügung, und was
daran barock oder grausenvoll sein soll, kann man nur im Fieber herausfinden»
Hatte ich Unrecht,, eine poetische Individualität, die so empfindet, krankhaft zu
nennen? — Aber die Erklärung ist nicht einmal wahr, wenigstens nur halb wahr;
denn im Gedicht selbst' ist ans diesen Umstand nicht der geringste Accent gelegt,
die eigentliche Moral des Stückes ist in dem Schlich ausgedrückt: „Gregorio.
Wie jählings kommt der Tod! (schüttelt sich.)" — Die Erklärung ist nur dazu
bestimmt, Herrn Nötscher aufzufordern, eine neue Kunstgattung philosophisch zu
begründen: die Tragikomödie. „Sie ergibt sich überall, wo ein tragisches Ge¬
schick in nntragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende
und untergehende Mensch, auf der andern jedoch nicht die berechtigte sittliche
Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende'
vou Opfern hinnntcrwürgt, ohne ein einziges zu verdienen." — Ich zweifle
nicht daran, daß Herr Rötscher bereitwillig an diese Arbeit gehen wird, glaube
aber um so mehr aus das Unkünstlerische einer solchen Kunstgattung hinweisen zu
müssen, da mit jener Definition eigentlich nicht blos das „Trauerspiel in Sicilien",
sondern sämmtliche Dramen Hebbel's gemeint sind. Seine Muse ist überall die
Hyäne, die Leichen aufwühlt; seiue ganze Welt von Leichenduft erfüllt. Ich
glaube mit Goethe, daß die Welt kein Tummelplatz für Larven sein darf, am
wenigsten die Welt der Kunst. — Abgesehen davon, daß Hebbel in seiner Tragi¬
komödie sein Versprechen nicht einmal erfüllt, denn wir lernen nicht die sittliche
Grundlage der Zeit als einen Sumpf fauler Verhältnisse kennen, sondern nur
eiuzelue unsittliche Menschen, deren es aller Orten und zu allen Zeiten gibt, so
scheint mir, anch ideal gefaßt, jene Aufgabe keine Aufgabe der Kunst zu sein.
Ich halte es z. B. sür verwerflich, wenn Dumas in seinem Caligula, oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/217>, abgerufen am 24.07.2024.