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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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die aber, wie namentlich seine Vorrede zur Maria Magdalena, zu fruchtbarem
Nachdenken anregen. Die Ansicht, welche er in jener Vorrede von der höheren
Bedeutung des Drama's überhaupt, und insbesondere von der sittlichen Tendenz
unserer Zeit ausgesprochen hat^), ist in der That der Gordische Knoten,
in welchem sich alle Bestrebungen der modernen Wissenschaft und Kunst
begegnen. -- Wenn trotzdenl in der Aufgabe, welche sich die Poesie auf Grund
dieser Tendenz stellt, wie nachher zu erörtern, etwas Irriges und selbst Krankhaftes
liegt, so ist das nicht in der Anwendung des Nachdenkens, der Reflexion, der
Philosophie aus die poetische Production überhaupt zu suchen, denn uur in einer
naiven Zeit genügt die lebhafte Schilderung, das natürliche Gefühl u. f. w.;
wo die Reflexion so tief in alle Adern und Nerven des Volks eingedrungen ist,
wie bei uus, muß der Dichter, der die Zeit wahrhaft hinreißen, der sie uicht blos
als Curiosität amüsiren will, an Tiefe der Bildung, an Macht des Gedankens
ihr ebenso überlegen sein, als in dem, was überhaupt den Dichter macht, an
Gestaltungskraft.

-- Wenn ich diese Vorzüge, deren Bedeutuug durch die nachfolgende Ana¬
lyse keineswegs abgeschwächt werden soll, zusammenfasse, so würden sie zu seinen
am meisten hervortretenden Untugenden in folgendes Verhältniß treten. -- Sie
sind entsprungen, nicht, oder wenigstens nicht blos aus eiuer natürlichen Freude
am Schaffell, soudern ans einer bewußten Reaction gegen eine verkehrte Richtung
der Zeit, und diese Reaction, die wie alle Absicht, wo man sie herausfühlt, ver¬
stimmen muß, treibt deu Dichter, der in seiner Seele kein Maaß siudet, über die
Grenzen der Kunst, der Schönheit, der Wahrheit hinaus, endlich -- wie alle
Extreme sich berühren -- gerade in die Richtung, die er bekämpft, hinein. --
Das ist nun im Einzelnen nachzuweisen. Ich bleibe, der Uebersicht wegen, bei
der vorher angenommenen Eintheilung.

Zuerst also über die Art, wie der Dichter seiue Gestalten, seine Fabeln con-
cipirt. Ich habe vorher rühmend die Consequenz anerkannt, mit welcher er die
ursprüngliche Alllage festhält; ich muß aber hinzusetzen: diese Consequenz ist im
strengsten Sinn des Worts eine gemachte. Hebbel ist aus gerechter Opposition
gegen die Uubestinuutheitcu, Schwankungen und Trivialitäten der geistreichen Zer-
flossenheit, die er in dem Gebährden der meiste" gleichzeitigen poetischen Figuren,
namentlich aus der Schule des jungen Deutschland wahrnahm, in das entgegen¬
gesetzte Extrem getrieben. Er führt den Entschluß, seine Personen nichts Anderes
sprechen und thun zu lassen, als was ihre Eigeuthülulichkeit all's Licht setzen kann,



^) "Der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue
und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen,
er will, daß sie . . . den äußern Haken, an dem sie bis jetzt zum Theil befestigt waren,
gegen den innen SchwerpnM, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen
sollen." -- Die Philosophie nennt das: Aufhebung der Transcendenz.
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die aber, wie namentlich seine Vorrede zur Maria Magdalena, zu fruchtbarem
Nachdenken anregen. Die Ansicht, welche er in jener Vorrede von der höheren
Bedeutung des Drama's überhaupt, und insbesondere von der sittlichen Tendenz
unserer Zeit ausgesprochen hat^), ist in der That der Gordische Knoten,
in welchem sich alle Bestrebungen der modernen Wissenschaft und Kunst
begegnen. — Wenn trotzdenl in der Aufgabe, welche sich die Poesie auf Grund
dieser Tendenz stellt, wie nachher zu erörtern, etwas Irriges und selbst Krankhaftes
liegt, so ist das nicht in der Anwendung des Nachdenkens, der Reflexion, der
Philosophie aus die poetische Production überhaupt zu suchen, denn uur in einer
naiven Zeit genügt die lebhafte Schilderung, das natürliche Gefühl u. f. w.;
wo die Reflexion so tief in alle Adern und Nerven des Volks eingedrungen ist,
wie bei uus, muß der Dichter, der die Zeit wahrhaft hinreißen, der sie uicht blos
als Curiosität amüsiren will, an Tiefe der Bildung, an Macht des Gedankens
ihr ebenso überlegen sein, als in dem, was überhaupt den Dichter macht, an
Gestaltungskraft.

— Wenn ich diese Vorzüge, deren Bedeutuug durch die nachfolgende Ana¬
lyse keineswegs abgeschwächt werden soll, zusammenfasse, so würden sie zu seinen
am meisten hervortretenden Untugenden in folgendes Verhältniß treten. — Sie
sind entsprungen, nicht, oder wenigstens nicht blos aus eiuer natürlichen Freude
am Schaffell, soudern ans einer bewußten Reaction gegen eine verkehrte Richtung
der Zeit, und diese Reaction, die wie alle Absicht, wo man sie herausfühlt, ver¬
stimmen muß, treibt deu Dichter, der in seiner Seele kein Maaß siudet, über die
Grenzen der Kunst, der Schönheit, der Wahrheit hinaus, endlich — wie alle
Extreme sich berühren — gerade in die Richtung, die er bekämpft, hinein. —
Das ist nun im Einzelnen nachzuweisen. Ich bleibe, der Uebersicht wegen, bei
der vorher angenommenen Eintheilung.

Zuerst also über die Art, wie der Dichter seiue Gestalten, seine Fabeln con-
cipirt. Ich habe vorher rühmend die Consequenz anerkannt, mit welcher er die
ursprüngliche Alllage festhält; ich muß aber hinzusetzen: diese Consequenz ist im
strengsten Sinn des Worts eine gemachte. Hebbel ist aus gerechter Opposition
gegen die Uubestinuutheitcu, Schwankungen und Trivialitäten der geistreichen Zer-
flossenheit, die er in dem Gebährden der meiste» gleichzeitigen poetischen Figuren,
namentlich aus der Schule des jungen Deutschland wahrnahm, in das entgegen¬
gesetzte Extrem getrieben. Er führt den Entschluß, seine Personen nichts Anderes
sprechen und thun zu lassen, als was ihre Eigeuthülulichkeit all's Licht setzen kann,



^) „Der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue
und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen,
er will, daß sie . . . den äußern Haken, an dem sie bis jetzt zum Theil befestigt waren,
gegen den innen SchwerpnM, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen
sollen." — Die Philosophie nennt das: Aufhebung der Transcendenz.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/211>, abgerufen am 23.07.2024.