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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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und diese Eigenthümlichkeit durch alle Mittel aus ihnen herauszuforciren, mit
einem Eifer und einer Gewissenhaftigkeit durch, die etwas Aengstliches hat; er
läßt sie nichts sprechen, als Epigramme, und zwingt dadurch selbst seine Sprache
in barocke, unbehilfliche, zuweilen geradezu unverständliche Formen. Das im-
ponirt, so lange man die Methode nicht weg hat. Aber eine Sammlung
von Epigrammen nach einer bestimmten, gleichen Richtung hin macht noch keinen
organisches!, lebensfähigen Charakter; ebensowenig wie man die Caricatnren La
Bruyöre's Charaktere neunen kann. La Bruyöre ist aber sein directes Vorbild;
an zwei kleinen Stücken: der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf
der Freudenjagd (1837, in Engländer's Salon) und: Herr Haidvogel (in
Ruge's poetischen Bildern) kann man das ganz genau verfolgen, nur daß noch
die Sprache und Ideenassociation Jean Paul's sehr bedeutend mit einwirkt. --
Nepomuk Schlägel ist ein schwarzgalliger Charakter, der den ganzen Tag nach
Stoff ausgeht, sich über alle Welt zu ärgern, und diesen Stoss in den scheinbar
am wenigsten dazu geeigneten Veranlassungen findet. Dieses Thema wird in
endlosen Variationen abgespielt, die ebenso halsbrcchend und barock find, als die
des Virtuosen Ernst über den Carneval von Venedig. Z. B. "Der Stelzfuß,
der eben pfeifend vorüber stapft, gibt ihm zu einem Fluche Grund geung, denn
er denkt: es wäre die Frage, ob Du ein hölzernes Bein bezahlen könntest, wenn
Dn, wie der da, das fleischerne einbüßtest. Als er einmal vom Lande einen Dieb
einbringen sah, verdroß es ihn sehr, daß der kränkliche Mensch, den der Arzt
für den Fnßtransport zu schwach befunden hatte, ans eiuen Leitenvagen gepackt
war, und er fragte einen Bekannten giftig, ob er glaube, daß man ihn in gleicher
Lage ähnlich behandeln werde." -- "Bettelkiuder könnt' er durchprügeln, weil sie
ihn nicht anbetteln; woher weiß das Gestndcl, denkt er, daß ich ein Lump bin!
könnte ich nicht anch ein Sonderling sein, ein Engländer, der sich ans Grillen¬
haftigkeit in nichtswürdige Kleider steckt?" -- "Dem liebenden Paar, das, in sein
süßes Geschwätz verloren, vorüberschleicht, folgt er ans dem Fuß, nicht ans Neu¬
gier, oder um es zu stören, souderu um sich bei Laternenlicht aus des Mädchens
Gesicht die Impertinenz zu abstrahiren, mit der sie ihn würde ablaufen lassen,
falls er sich zum Seladon antrüge." -- U. s. w. Die Einfälle könnten, gerade
wie bei Theophrast, in's Unendliche geführt werdeu, da sie nur auf widersinnigen
Combinationen beruhen. Uebrigens ist das Zerrbild nicht neu, es ist der Jacques
aus ^ein like it^. -- Nur noch ein Beispiel, das ganz Jean Paul ist. "Bier-
uud Speisehäuser siud Bet- und Fluchhäuscr für ihn; seine nah an den Atheis¬
mus streifende Ueberzeugung vou der gebrechlichen Einrichtung der Welt hat er
in dieser trüben Atmosphäre, und im eigentlichen Verstand aus Biertrügen, ans
solchen nämlich, die er nicht stürzen durfte, geschöpft." -- Daß eine solche Samm¬
lung synonymer Einfälle unkünstlerisch ist, darf nicht erst bemerkt werden; sie unter¬
scheidet sich von der Conception ähnlicher abstracten Lächerlichkeiten im Lustspiel


und diese Eigenthümlichkeit durch alle Mittel aus ihnen herauszuforciren, mit
einem Eifer und einer Gewissenhaftigkeit durch, die etwas Aengstliches hat; er
läßt sie nichts sprechen, als Epigramme, und zwingt dadurch selbst seine Sprache
in barocke, unbehilfliche, zuweilen geradezu unverständliche Formen. Das im-
ponirt, so lange man die Methode nicht weg hat. Aber eine Sammlung
von Epigrammen nach einer bestimmten, gleichen Richtung hin macht noch keinen
organisches!, lebensfähigen Charakter; ebensowenig wie man die Caricatnren La
Bruyöre's Charaktere neunen kann. La Bruyöre ist aber sein directes Vorbild;
an zwei kleinen Stücken: der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf
der Freudenjagd (1837, in Engländer's Salon) und: Herr Haidvogel (in
Ruge's poetischen Bildern) kann man das ganz genau verfolgen, nur daß noch
die Sprache und Ideenassociation Jean Paul's sehr bedeutend mit einwirkt. —
Nepomuk Schlägel ist ein schwarzgalliger Charakter, der den ganzen Tag nach
Stoff ausgeht, sich über alle Welt zu ärgern, und diesen Stoss in den scheinbar
am wenigsten dazu geeigneten Veranlassungen findet. Dieses Thema wird in
endlosen Variationen abgespielt, die ebenso halsbrcchend und barock find, als die
des Virtuosen Ernst über den Carneval von Venedig. Z. B. „Der Stelzfuß,
der eben pfeifend vorüber stapft, gibt ihm zu einem Fluche Grund geung, denn
er denkt: es wäre die Frage, ob Du ein hölzernes Bein bezahlen könntest, wenn
Dn, wie der da, das fleischerne einbüßtest. Als er einmal vom Lande einen Dieb
einbringen sah, verdroß es ihn sehr, daß der kränkliche Mensch, den der Arzt
für den Fnßtransport zu schwach befunden hatte, ans eiuen Leitenvagen gepackt
war, und er fragte einen Bekannten giftig, ob er glaube, daß man ihn in gleicher
Lage ähnlich behandeln werde." — „Bettelkiuder könnt' er durchprügeln, weil sie
ihn nicht anbetteln; woher weiß das Gestndcl, denkt er, daß ich ein Lump bin!
könnte ich nicht anch ein Sonderling sein, ein Engländer, der sich ans Grillen¬
haftigkeit in nichtswürdige Kleider steckt?" — „Dem liebenden Paar, das, in sein
süßes Geschwätz verloren, vorüberschleicht, folgt er ans dem Fuß, nicht ans Neu¬
gier, oder um es zu stören, souderu um sich bei Laternenlicht aus des Mädchens
Gesicht die Impertinenz zu abstrahiren, mit der sie ihn würde ablaufen lassen,
falls er sich zum Seladon antrüge." — U. s. w. Die Einfälle könnten, gerade
wie bei Theophrast, in's Unendliche geführt werdeu, da sie nur auf widersinnigen
Combinationen beruhen. Uebrigens ist das Zerrbild nicht neu, es ist der Jacques
aus ^ein like it^. — Nur noch ein Beispiel, das ganz Jean Paul ist. „Bier-
uud Speisehäuser siud Bet- und Fluchhäuscr für ihn; seine nah an den Atheis¬
mus streifende Ueberzeugung vou der gebrechlichen Einrichtung der Welt hat er
in dieser trüben Atmosphäre, und im eigentlichen Verstand aus Biertrügen, ans
solchen nämlich, die er nicht stürzen durfte, geschöpft." — Daß eine solche Samm¬
lung synonymer Einfälle unkünstlerisch ist, darf nicht erst bemerkt werden; sie unter¬
scheidet sich von der Conception ähnlicher abstracten Lächerlichkeiten im Lustspiel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/212>, abgerufen am 23.07.2024.