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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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heimathen so zersetzt und zerfressen hat, daß die meisten poetischen Figuren, nach
dem Bilde ihrer Urheber, in der Form von Mollusken auftreten. -- Was von
den Charakteren gilt, ist anch von der Handlung zu sagen; Hebbel würde in der
Erfindung und Durchführung der Fabel, der Anekdo-te, sich lieber der Barbarei
zeihen lassen, als der kleinsten liebenswürdigen Schwäche.

Zweitens. Er versteht, was ein wesentliches Erforderniß des dramatischen
Dichters ist, das Fieber der Leidenschaft mit einer Virtuosität, eiuer hinreißenden
Gewalt zu schildern, daß sie unter den jetzt lebenden Dichten nirgend, vielleicht
unter allen deutschell Dichtern überhaupt uicht ihres Gleichen findet. Ich führe
nur die Scene an, in welcher Holofernes der Judith Gewalt anthut, inclusive
des Vorspiels (der Schauder ihres Gemahls in der Hochzeituacht) und der Nach¬
wirkungen (der Mord des Holofernes und die darauf folgende Stimmung der Heldin
bis zum Schluß). Die Schilderung wird vielleicht empören, aber sie wird hin¬
reißen. -- Ebenso die Reihenfolge der Empfindungen Klara's in der Maria
Magdalena. -- Hebbel hat scharf genug beobachtet, und die Saiten seines In¬
nern vibriren lebhaft genug, daß ihm dieses Fieber im Detail aufgeht. Dieses
Detail zeigt aber deutlicher als eine weitaussehende Intention die dramatische
Begabung. Ich möchte ihn darin mit der Rachel vergleichen, die z. B. in der
Stelle der Horatier von dem ersten Austreten des Valerius mit der Nachricht
voll dem Ausgang der Schlacht bis zu ihrem Tod so viel Hebbel ist, als ein
Schauspieler mit dem Dichter überhaupt Verwandtschaft haben kann. Beiläufig,
würde sie ebeu darum Hebbel's Stücke unter keiner Bedingung spielen, weil die
Production des Dichters ihre eigene Schöpfungskraft einengt, wie sie auch Victor
Hugo verschmäht, der wenigstens in der Intention, ungewöhnliche Leidenschaften
zu detaillireu, wenn auch keineswegs in der Sicherheit der Ausführung, mit
Hebbel verglichen werden kann, und dafür mit besonderer Vorliebe die nach einem
allgemeinen Schema hingeworfenen Charakterstizzen Corneille's, Racine's, Ponsard's
zu beleben oder zu galvanisiren strebt. -- Es zeigt sich diese Kraft anch in den
wilden Sprüngen, die Golo'ö Leidenschaft macht, aber nicht mehr rein, weil ein
Moment, ans das ich nachher komme, darin schon das Uebergewicht hat: das
Moment der Willkür, des unklaren Verhältnisses zwischen Wesen und Erschei-
nung, Motiv und Action; -- das Moment des Wahnsinns. -- Hebbel verkennt
vollständig sein Talent, wenn er in den meisten seiner neuern Stücke sich in
Stoffen bewegt, die eine detaillirte Entfaltung der Leidenschaft nicht zulassen.
Oder vielmehr: die Art, wie ihm die Leidenschaft aufgeht, treibt in ihrer Conse-
quenz zu Combinationen, die keine Detaillirung mehr zulassen, weil sie wesenlos
siud. Doch davou später.

Drittens. Hebbel geht von einer hohen Auffassung der Kunst aus; er
hat darüber, wie über die einzelnen Aufgaben, die er sich gesetzt hat, sehr ernst-
hafte Reflexionen angestellt, die nicht immer richtig sind, nicht einmal immer klar,


heimathen so zersetzt und zerfressen hat, daß die meisten poetischen Figuren, nach
dem Bilde ihrer Urheber, in der Form von Mollusken auftreten. — Was von
den Charakteren gilt, ist anch von der Handlung zu sagen; Hebbel würde in der
Erfindung und Durchführung der Fabel, der Anekdo-te, sich lieber der Barbarei
zeihen lassen, als der kleinsten liebenswürdigen Schwäche.

Zweitens. Er versteht, was ein wesentliches Erforderniß des dramatischen
Dichters ist, das Fieber der Leidenschaft mit einer Virtuosität, eiuer hinreißenden
Gewalt zu schildern, daß sie unter den jetzt lebenden Dichten nirgend, vielleicht
unter allen deutschell Dichtern überhaupt uicht ihres Gleichen findet. Ich führe
nur die Scene an, in welcher Holofernes der Judith Gewalt anthut, inclusive
des Vorspiels (der Schauder ihres Gemahls in der Hochzeituacht) und der Nach¬
wirkungen (der Mord des Holofernes und die darauf folgende Stimmung der Heldin
bis zum Schluß). Die Schilderung wird vielleicht empören, aber sie wird hin¬
reißen. — Ebenso die Reihenfolge der Empfindungen Klara's in der Maria
Magdalena. — Hebbel hat scharf genug beobachtet, und die Saiten seines In¬
nern vibriren lebhaft genug, daß ihm dieses Fieber im Detail aufgeht. Dieses
Detail zeigt aber deutlicher als eine weitaussehende Intention die dramatische
Begabung. Ich möchte ihn darin mit der Rachel vergleichen, die z. B. in der
Stelle der Horatier von dem ersten Austreten des Valerius mit der Nachricht
voll dem Ausgang der Schlacht bis zu ihrem Tod so viel Hebbel ist, als ein
Schauspieler mit dem Dichter überhaupt Verwandtschaft haben kann. Beiläufig,
würde sie ebeu darum Hebbel's Stücke unter keiner Bedingung spielen, weil die
Production des Dichters ihre eigene Schöpfungskraft einengt, wie sie auch Victor
Hugo verschmäht, der wenigstens in der Intention, ungewöhnliche Leidenschaften
zu detaillireu, wenn auch keineswegs in der Sicherheit der Ausführung, mit
Hebbel verglichen werden kann, und dafür mit besonderer Vorliebe die nach einem
allgemeinen Schema hingeworfenen Charakterstizzen Corneille's, Racine's, Ponsard's
zu beleben oder zu galvanisiren strebt. — Es zeigt sich diese Kraft anch in den
wilden Sprüngen, die Golo'ö Leidenschaft macht, aber nicht mehr rein, weil ein
Moment, ans das ich nachher komme, darin schon das Uebergewicht hat: das
Moment der Willkür, des unklaren Verhältnisses zwischen Wesen und Erschei-
nung, Motiv und Action; — das Moment des Wahnsinns. — Hebbel verkennt
vollständig sein Talent, wenn er in den meisten seiner neuern Stücke sich in
Stoffen bewegt, die eine detaillirte Entfaltung der Leidenschaft nicht zulassen.
Oder vielmehr: die Art, wie ihm die Leidenschaft aufgeht, treibt in ihrer Conse-
quenz zu Combinationen, die keine Detaillirung mehr zulassen, weil sie wesenlos
siud. Doch davou später.

Drittens. Hebbel geht von einer hohen Auffassung der Kunst aus; er
hat darüber, wie über die einzelnen Aufgaben, die er sich gesetzt hat, sehr ernst-
hafte Reflexionen angestellt, die nicht immer richtig sind, nicht einmal immer klar,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/210>, abgerufen am 23.07.2024.