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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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daß jedes Capitel mit einem ziemlich langen Gebet schließt, in welchem in der
Regel Jesus Christus aufgefordert wird, sich dem Zeitalter, welches sehnsüchtig
seiner harrt, ohne ihn finden zu können, endlich zu offenbaren.

Es rührt augenscheinlich von einer Frau her; die eigenthümliche Bewegung
des Denkens wie die Empfindungsweise ist weiblicher Natur. Doch ist es eine
Frau vou seltner Bildung und großer Intensivität des Gefühls; sie kann in ihrer
Art mit George Sand wetteifern, die freilich in Beziehung ans den Inhalt ihrer
Ansichten ihr vollständiger Antipode ist. Ihr Name ist nicht bekannt geworden.
Sie steht in der Art ihres Producirens eigentlich den britischen Schriftstellerinnen
näher, als ihren eignen Landsleuten, und die Lectüre von Mßtrs. Inchbald,
Grace Kennedy, Charlotte Bury, Gräfin Blessiugtou u. a. wird auch wohl uicht
ohne Einfluß auf sie geblieben sein.

Der Inhalt der Geschichte ist sehr einfach; von äußern Begebenheiten ist
wenig die Rede, das Ganze kommt auf eine Reihe von Seelenzuständen heraus.
Victor Vaudreuil gehört zu den Vorkämpfern der kirchlich - legitimistischen Partei,
die er aber eigentlich mehr aus stolzer Verachtung des Zeitgeistes vertritt, als
aus innerlicher Erweckung; durch tieferes Studium der autireligiöseu Schriften
wird er zuerst zum vollständigen Unglauben getrieben, dann zu einer Art selbst¬
gemachter, äußerlicher Religion mit einem Anstrich von pharisäischer Selbstgefäl¬
ligkeit, bis er endlich durch deu Einfluß seiner Gattin und einige Schicksale, die
ihn treffen, zum wcihreu Christenthum geführt wird. Diese Gattin ist "die
schöne Seele" des Stücks, die sich in dem Kern ihrer Empfindungen vom Anfang
bis zu Ende gleich bleibt, aber unter den geistigen Irrfahrten ihres Gemahls
sehr viel leidet, und endlich an zu großer Freude stirbt, als er zu dem Pfade
des Heils zurückgekehrt ist. Als Gegensatz zu beiden tritt ein alter, skeptischer
Marquis auf, der in der Ueberzeugung von der Eitelkeit alles Idealismus
resignirt hat, und blos den kalten Beobachter spielt, ohne doch die ursprüngliche
Wärme seines Herzens vollständig bewältigen zu können. Trotz seiner scheinbar
vollkommenen Uebereinstimmung mit sich selbst wird er als der Unseligste, der am
tiefsten Gefallene dargestellt, denn das Aufgeben des Ideals, die Bezwingung der
Schmerzen, in denen wir seinen Verlust, also auch seine Existenz empfinden, ist
das tiefste Elend des Menschen. -- Die übrigen Figuren dienen nur zur Folie.

Diese Charaktere siud sowohl in ihrer Anlage als in ihrer Entwickelung
interessant. Freilich ist diese Entwickelung mehr novellistisch, als dramatisch; wir
sehen wohl eine Reihe verschiedenartiger Seelenzustände an uns vorübergehen, wir
empfinden auch einen innern Zusammenhang uuter denselben, aber ihre Nothwen¬
digkeit wird uus uicht klar. Es sind immer nur psychische Abenteuer.

Die Religiosität der Johmiua von Vaudreuil steht unendlich höher, als die
der meisten ihrer neumodischen Glaubensgenossen, des Herrn von Chateaubriand,


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daß jedes Capitel mit einem ziemlich langen Gebet schließt, in welchem in der
Regel Jesus Christus aufgefordert wird, sich dem Zeitalter, welches sehnsüchtig
seiner harrt, ohne ihn finden zu können, endlich zu offenbaren.

Es rührt augenscheinlich von einer Frau her; die eigenthümliche Bewegung
des Denkens wie die Empfindungsweise ist weiblicher Natur. Doch ist es eine
Frau vou seltner Bildung und großer Intensivität des Gefühls; sie kann in ihrer
Art mit George Sand wetteifern, die freilich in Beziehung ans den Inhalt ihrer
Ansichten ihr vollständiger Antipode ist. Ihr Name ist nicht bekannt geworden.
Sie steht in der Art ihres Producirens eigentlich den britischen Schriftstellerinnen
näher, als ihren eignen Landsleuten, und die Lectüre von Mßtrs. Inchbald,
Grace Kennedy, Charlotte Bury, Gräfin Blessiugtou u. a. wird auch wohl uicht
ohne Einfluß auf sie geblieben sein.

Der Inhalt der Geschichte ist sehr einfach; von äußern Begebenheiten ist
wenig die Rede, das Ganze kommt auf eine Reihe von Seelenzuständen heraus.
Victor Vaudreuil gehört zu den Vorkämpfern der kirchlich - legitimistischen Partei,
die er aber eigentlich mehr aus stolzer Verachtung des Zeitgeistes vertritt, als
aus innerlicher Erweckung; durch tieferes Studium der autireligiöseu Schriften
wird er zuerst zum vollständigen Unglauben getrieben, dann zu einer Art selbst¬
gemachter, äußerlicher Religion mit einem Anstrich von pharisäischer Selbstgefäl¬
ligkeit, bis er endlich durch deu Einfluß seiner Gattin und einige Schicksale, die
ihn treffen, zum wcihreu Christenthum geführt wird. Diese Gattin ist „die
schöne Seele" des Stücks, die sich in dem Kern ihrer Empfindungen vom Anfang
bis zu Ende gleich bleibt, aber unter den geistigen Irrfahrten ihres Gemahls
sehr viel leidet, und endlich an zu großer Freude stirbt, als er zu dem Pfade
des Heils zurückgekehrt ist. Als Gegensatz zu beiden tritt ein alter, skeptischer
Marquis auf, der in der Ueberzeugung von der Eitelkeit alles Idealismus
resignirt hat, und blos den kalten Beobachter spielt, ohne doch die ursprüngliche
Wärme seines Herzens vollständig bewältigen zu können. Trotz seiner scheinbar
vollkommenen Uebereinstimmung mit sich selbst wird er als der Unseligste, der am
tiefsten Gefallene dargestellt, denn das Aufgeben des Ideals, die Bezwingung der
Schmerzen, in denen wir seinen Verlust, also auch seine Existenz empfinden, ist
das tiefste Elend des Menschen. — Die übrigen Figuren dienen nur zur Folie.

Diese Charaktere siud sowohl in ihrer Anlage als in ihrer Entwickelung
interessant. Freilich ist diese Entwickelung mehr novellistisch, als dramatisch; wir
sehen wohl eine Reihe verschiedenartiger Seelenzustände an uns vorübergehen, wir
empfinden auch einen innern Zusammenhang uuter denselben, aber ihre Nothwen¬
digkeit wird uus uicht klar. Es sind immer nur psychische Abenteuer.

Die Religiosität der Johmiua von Vaudreuil steht unendlich höher, als die
der meisten ihrer neumodischen Glaubensgenossen, des Herrn von Chateaubriand,


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[0019] daß jedes Capitel mit einem ziemlich langen Gebet schließt, in welchem in der Regel Jesus Christus aufgefordert wird, sich dem Zeitalter, welches sehnsüchtig seiner harrt, ohne ihn finden zu können, endlich zu offenbaren. Es rührt augenscheinlich von einer Frau her; die eigenthümliche Bewegung des Denkens wie die Empfindungsweise ist weiblicher Natur. Doch ist es eine Frau vou seltner Bildung und großer Intensivität des Gefühls; sie kann in ihrer Art mit George Sand wetteifern, die freilich in Beziehung ans den Inhalt ihrer Ansichten ihr vollständiger Antipode ist. Ihr Name ist nicht bekannt geworden. Sie steht in der Art ihres Producirens eigentlich den britischen Schriftstellerinnen näher, als ihren eignen Landsleuten, und die Lectüre von Mßtrs. Inchbald, Grace Kennedy, Charlotte Bury, Gräfin Blessiugtou u. a. wird auch wohl uicht ohne Einfluß auf sie geblieben sein. Der Inhalt der Geschichte ist sehr einfach; von äußern Begebenheiten ist wenig die Rede, das Ganze kommt auf eine Reihe von Seelenzuständen heraus. Victor Vaudreuil gehört zu den Vorkämpfern der kirchlich - legitimistischen Partei, die er aber eigentlich mehr aus stolzer Verachtung des Zeitgeistes vertritt, als aus innerlicher Erweckung; durch tieferes Studium der autireligiöseu Schriften wird er zuerst zum vollständigen Unglauben getrieben, dann zu einer Art selbst¬ gemachter, äußerlicher Religion mit einem Anstrich von pharisäischer Selbstgefäl¬ ligkeit, bis er endlich durch deu Einfluß seiner Gattin und einige Schicksale, die ihn treffen, zum wcihreu Christenthum geführt wird. Diese Gattin ist „die schöne Seele" des Stücks, die sich in dem Kern ihrer Empfindungen vom Anfang bis zu Ende gleich bleibt, aber unter den geistigen Irrfahrten ihres Gemahls sehr viel leidet, und endlich an zu großer Freude stirbt, als er zu dem Pfade des Heils zurückgekehrt ist. Als Gegensatz zu beiden tritt ein alter, skeptischer Marquis auf, der in der Ueberzeugung von der Eitelkeit alles Idealismus resignirt hat, und blos den kalten Beobachter spielt, ohne doch die ursprüngliche Wärme seines Herzens vollständig bewältigen zu können. Trotz seiner scheinbar vollkommenen Uebereinstimmung mit sich selbst wird er als der Unseligste, der am tiefsten Gefallene dargestellt, denn das Aufgeben des Ideals, die Bezwingung der Schmerzen, in denen wir seinen Verlust, also auch seine Existenz empfinden, ist das tiefste Elend des Menschen. — Die übrigen Figuren dienen nur zur Folie. Diese Charaktere siud sowohl in ihrer Anlage als in ihrer Entwickelung interessant. Freilich ist diese Entwickelung mehr novellistisch, als dramatisch; wir sehen wohl eine Reihe verschiedenartiger Seelenzustände an uns vorübergehen, wir empfinden auch einen innern Zusammenhang uuter denselben, aber ihre Nothwen¬ digkeit wird uus uicht klar. Es sind immer nur psychische Abenteuer. Die Religiosität der Johmiua von Vaudreuil steht unendlich höher, als die der meisten ihrer neumodischen Glaubensgenossen, des Herrn von Chateaubriand, 67*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/19>, abgerufen am 24.08.2024.