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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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oder so vollständig den Kopf verloren, daß sie Alles über sich ergehen zu lassen
bereit waren, da sind wir, ohne äußere Mittel, der Sphinx der Revolution ent¬
gegengetreten und haben sie gebannt, indem wir das Wort ihres Räthsels aus-
sprachen: staatliche Centralisation! Und als der Schrecken vorüber war, sind die
Allweisen aus ihren Schlupfwinkeln wieder herausgekrochen, und haben gemeint,
es sei Alles blos Spaß gewesen! Die wilde Bestie habe nur gebrüllt, ein paar
Zwirnsfaden an ihre Klanen, und man könne sich unbesorgt schlafen legen. --
Hütet euch vor der Bestie! sie ist freilich nur dann zu fürchten, wenn sie wild
wird, sie wird es langsam, und ihre Wuth danert nicht lange; aber diese Augen¬
blicke reichen hin, euch zu zerfleischen und zugleich Alles, was dem Dentschen bis
dahin heilig gewesen ist. Eure Zwirnsfaden werden euch dann nichts helfen.

Ihr glaubt, uns düpirt zu haben, und eure Gegner, die Revolutionärs, glauben
es auch; sie schelten uns Verräther. -- Wir sind nicht düpirt, es ist uns keinen
Augenblick eingefallen, aus Liebe zu deu Fürsten zu handeln. Wenn wir uns
dann das Heft aus den Händen winden ließen, so ist das freilich unsere Schuld,
aber uicht die Schuld uuserer Pietät. Dank ist uns die Reaction nicht schuldig;
was wir gethan haben, haben wir nicht um ihretwillen gethan. -- Nicht ihr
Herz, aber ihr Verstand sollte sie mit uns verbinden. Denn es steht hente so
wie vor dem März; wir haben beide gleich sehr die Revolution zu fürchten; und
vor der Revolution rettet nur der Weg, deu wir bezeichnet, den wir gebahnt
haben.

Warum fürchten wir die Revolution? -- Es ist nicht das Gespenst des
Terrorismus, das nus ängstigt. Freilich ist es eine fürchterliche Zeit, in der
man sich an den Geruch des Bluts so gewöhnt, daß man es gar nicht mehr
bemerkt, aber sie geht vorüber. Wenn auch Tausende unter der Guillotine ge-
fallen sind, Menschen finden sich immer wieder. -- Was wir fürchten, ist die
Unfähigkeit unsers Volks, eine Krisis zu überleben. Das ist es, worin sich die
Demokraten täuschen. Die Sünden unserer Herren lasten auf unserm Haupt;
wir haben nicht die Kraft und daher anch nicht das Recht, mit den Geistern der
Finsterniß zu spielen. -- Die Franzosen können leicht eine Revolution unterneh-
men, denn sie thun es uur auf die Gefahr, daß die nächste Generation dabei zu
Grnnde geht; das Volk geht nicht uuter, irgendwie wird es sich schon heraus¬
finden, denn es hat in seiner staatliche Centralisation gelernt, sich als Nation
zu fühlen und sich eine Form zu geben, sobald es sie bedarf.

Wir siud durch unsere Kleinstaaterei von allen Uebeln der bureaukratischen
Centralisation, die Naudot so vortrefflich schildert, von allen heimgesucht, ohne
eiues von den Heilmitteln, welche die gouvernementale Centralisation gewährt.
Nicht in unserm Privatleben, welches -- und das ist unser einziger Trost.' --
reiner und sittlicher ist, als das aller unserer Nachbarn, aber in unserm politischen
Denken und Empfinden sind wir vollständig geschwächt und depraoirt. Wir wissen


oder so vollständig den Kopf verloren, daß sie Alles über sich ergehen zu lassen
bereit waren, da sind wir, ohne äußere Mittel, der Sphinx der Revolution ent¬
gegengetreten und haben sie gebannt, indem wir das Wort ihres Räthsels aus-
sprachen: staatliche Centralisation! Und als der Schrecken vorüber war, sind die
Allweisen aus ihren Schlupfwinkeln wieder herausgekrochen, und haben gemeint,
es sei Alles blos Spaß gewesen! Die wilde Bestie habe nur gebrüllt, ein paar
Zwirnsfaden an ihre Klanen, und man könne sich unbesorgt schlafen legen. —
Hütet euch vor der Bestie! sie ist freilich nur dann zu fürchten, wenn sie wild
wird, sie wird es langsam, und ihre Wuth danert nicht lange; aber diese Augen¬
blicke reichen hin, euch zu zerfleischen und zugleich Alles, was dem Dentschen bis
dahin heilig gewesen ist. Eure Zwirnsfaden werden euch dann nichts helfen.

Ihr glaubt, uns düpirt zu haben, und eure Gegner, die Revolutionärs, glauben
es auch; sie schelten uns Verräther. — Wir sind nicht düpirt, es ist uns keinen
Augenblick eingefallen, aus Liebe zu deu Fürsten zu handeln. Wenn wir uns
dann das Heft aus den Händen winden ließen, so ist das freilich unsere Schuld,
aber uicht die Schuld uuserer Pietät. Dank ist uns die Reaction nicht schuldig;
was wir gethan haben, haben wir nicht um ihretwillen gethan. — Nicht ihr
Herz, aber ihr Verstand sollte sie mit uns verbinden. Denn es steht hente so
wie vor dem März; wir haben beide gleich sehr die Revolution zu fürchten; und
vor der Revolution rettet nur der Weg, deu wir bezeichnet, den wir gebahnt
haben.

Warum fürchten wir die Revolution? — Es ist nicht das Gespenst des
Terrorismus, das nus ängstigt. Freilich ist es eine fürchterliche Zeit, in der
man sich an den Geruch des Bluts so gewöhnt, daß man es gar nicht mehr
bemerkt, aber sie geht vorüber. Wenn auch Tausende unter der Guillotine ge-
fallen sind, Menschen finden sich immer wieder. — Was wir fürchten, ist die
Unfähigkeit unsers Volks, eine Krisis zu überleben. Das ist es, worin sich die
Demokraten täuschen. Die Sünden unserer Herren lasten auf unserm Haupt;
wir haben nicht die Kraft und daher anch nicht das Recht, mit den Geistern der
Finsterniß zu spielen. — Die Franzosen können leicht eine Revolution unterneh-
men, denn sie thun es uur auf die Gefahr, daß die nächste Generation dabei zu
Grnnde geht; das Volk geht nicht uuter, irgendwie wird es sich schon heraus¬
finden, denn es hat in seiner staatliche Centralisation gelernt, sich als Nation
zu fühlen und sich eine Form zu geben, sobald es sie bedarf.

Wir siud durch unsere Kleinstaaterei von allen Uebeln der bureaukratischen
Centralisation, die Naudot so vortrefflich schildert, von allen heimgesucht, ohne
eiues von den Heilmitteln, welche die gouvernementale Centralisation gewährt.
Nicht in unserm Privatleben, welches — und das ist unser einziger Trost.' —
reiner und sittlicher ist, als das aller unserer Nachbarn, aber in unserm politischen
Denken und Empfinden sind wir vollständig geschwächt und depraoirt. Wir wissen


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[0149] oder so vollständig den Kopf verloren, daß sie Alles über sich ergehen zu lassen bereit waren, da sind wir, ohne äußere Mittel, der Sphinx der Revolution ent¬ gegengetreten und haben sie gebannt, indem wir das Wort ihres Räthsels aus- sprachen: staatliche Centralisation! Und als der Schrecken vorüber war, sind die Allweisen aus ihren Schlupfwinkeln wieder herausgekrochen, und haben gemeint, es sei Alles blos Spaß gewesen! Die wilde Bestie habe nur gebrüllt, ein paar Zwirnsfaden an ihre Klanen, und man könne sich unbesorgt schlafen legen. — Hütet euch vor der Bestie! sie ist freilich nur dann zu fürchten, wenn sie wild wird, sie wird es langsam, und ihre Wuth danert nicht lange; aber diese Augen¬ blicke reichen hin, euch zu zerfleischen und zugleich Alles, was dem Dentschen bis dahin heilig gewesen ist. Eure Zwirnsfaden werden euch dann nichts helfen. Ihr glaubt, uns düpirt zu haben, und eure Gegner, die Revolutionärs, glauben es auch; sie schelten uns Verräther. — Wir sind nicht düpirt, es ist uns keinen Augenblick eingefallen, aus Liebe zu deu Fürsten zu handeln. Wenn wir uns dann das Heft aus den Händen winden ließen, so ist das freilich unsere Schuld, aber uicht die Schuld uuserer Pietät. Dank ist uns die Reaction nicht schuldig; was wir gethan haben, haben wir nicht um ihretwillen gethan. — Nicht ihr Herz, aber ihr Verstand sollte sie mit uns verbinden. Denn es steht hente so wie vor dem März; wir haben beide gleich sehr die Revolution zu fürchten; und vor der Revolution rettet nur der Weg, deu wir bezeichnet, den wir gebahnt haben. Warum fürchten wir die Revolution? — Es ist nicht das Gespenst des Terrorismus, das nus ängstigt. Freilich ist es eine fürchterliche Zeit, in der man sich an den Geruch des Bluts so gewöhnt, daß man es gar nicht mehr bemerkt, aber sie geht vorüber. Wenn auch Tausende unter der Guillotine ge- fallen sind, Menschen finden sich immer wieder. — Was wir fürchten, ist die Unfähigkeit unsers Volks, eine Krisis zu überleben. Das ist es, worin sich die Demokraten täuschen. Die Sünden unserer Herren lasten auf unserm Haupt; wir haben nicht die Kraft und daher anch nicht das Recht, mit den Geistern der Finsterniß zu spielen. — Die Franzosen können leicht eine Revolution unterneh- men, denn sie thun es uur auf die Gefahr, daß die nächste Generation dabei zu Grnnde geht; das Volk geht nicht uuter, irgendwie wird es sich schon heraus¬ finden, denn es hat in seiner staatliche Centralisation gelernt, sich als Nation zu fühlen und sich eine Form zu geben, sobald es sie bedarf. Wir siud durch unsere Kleinstaaterei von allen Uebeln der bureaukratischen Centralisation, die Naudot so vortrefflich schildert, von allen heimgesucht, ohne eiues von den Heilmitteln, welche die gouvernementale Centralisation gewährt. Nicht in unserm Privatleben, welches — und das ist unser einziger Trost.' — reiner und sittlicher ist, als das aller unserer Nachbarn, aber in unserm politischen Denken und Empfinden sind wir vollständig geschwächt und depraoirt. Wir wissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/149>, abgerufen am 25.08.2024.