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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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uns nicht zu helfen; an's Banen müssen wir denken, so lange wir bei Verstände
sind; kommt die Zeit der Leidenschaft, so ist es zu spät; die eine Hand wird sich
gegen die andere erheben, und wir werden so lange in unsern Eingeweiden wüh¬
len, bis unsere lauernden Nachbarn uns das Schicksal Polens angedeihen lassen.

Man verkenne nicht den Ernst unserer Lage! Für den Augenblick ist
freilich nichts zu fürchten. Sobald das letzte edle und schöne Aufflackern unsers
erlöschenden Nechtsgefühls -- in Kurhessen und in Schleswig-Holstein -- unter-
drückt sein wird, können die Regierungen Alles thun, was ihnen einfällt; sie
können verordnen, daß der zehnte Mann gehängt werden soll, die neun Übrig¬
bleibenden werden keinen Widerstand leisten. Es ist überall eine Mutlosigkeit
und Schlaffheit, ein Ekel an dem ganzen politischen Wesen, der sich den Schein
lächelnder Blasirtheit gibt, eine pessimistische Resignation, die etwas Unheimliches
hat. Man will ans der Geschichte nie lernen, wie eine solche Gährung allerdings
Zeit braucht, um zu explodiren, aber anch eine Zelt, wie sie langsam wächst,
ohne daß man es merkt, bis ein elektrischer Funke sie berührt, und dann jene
entsetzliche Gewalt zu ihrer eiguen Ueberraschung sich entfaltet. Wenn man in den
verschiedensten Schichten der Gesellschaft zu beobachten Gelegenheit hat, wie mehr
und mehr alle Empfindungen des Rechts, der Liebe und des Vertrauens unter¬
graben werden, was für eine Fülle von Grimm und Haß, von schlechter Leiden¬
schaft sich hinter jener anscheinenden Resignation versteckt, so muß man die heitere
Sorglosigkeit unserer Machthaber unbegreiflich siudeu. Römische und türkische
Kaiser haben sich freilich immer in solchen Zuständen bewegt; sie wußten, daß
ihnen vielleicht morgen der Strang bevorstand, so ließen sie heute uach Herzens¬
lust stranguliren. So ist aber das Verhältniß uuserer legitimen, mit dem Volk
großgewordenen Obrigkeit nicht. Sie darf nicht durch bloße Gewalt herrschen,
sie kann es nicht: denn auch unser Volk ist ein anderes als das römische und
türkische, unser Heer ein anderes, wir haben keine aus geraubten Sclavenkindern
zusammengesetzte Janitscharen, keine Prätorianer. Unsere Zustände sind auf sitt¬
liche Verhältnisse zugeschickten; wo diese gelöst werden, ist Alles in Frage gestellt.
Und man vergesse nicht, daß wir jetzt viel schlimmer stehen, als vor dem März.
Damals waren im Ganzen die Unzufriedenen eine verhältnißmäßig kleine Partei,
die Masse folgte nachher blind dem Impuls. Es war kein positiver, ans be¬
stimmte, leicht übersichtliche Ereignisse bezüglicher Haß, keine Erbitterung getäusch¬
ter Hoffnungen, kein Ingrimm verletzten Selbstgefühls im Volke vorhanden.
Heute ist es umgekehrt. Die Zufriedenen siud eine Partei.

Diese Betrachtungen sollen keine müßige Deklamation sein. Ein unvermeid¬
liches Uebel zu prophezeien, wäre ein sehr müßiges Geschäft. Das Uebel ist
aber uicht unvermeidlich. Fortwährend vernachlässigt, bietet die Geschichte
den deutschen Staaten fortwährend neue Gelegenheiten, sich zu rehabilitireu. Das
gibt auch den Machthabern Muth: wie so Mancher, der seine Buße bis zum


uns nicht zu helfen; an's Banen müssen wir denken, so lange wir bei Verstände
sind; kommt die Zeit der Leidenschaft, so ist es zu spät; die eine Hand wird sich
gegen die andere erheben, und wir werden so lange in unsern Eingeweiden wüh¬
len, bis unsere lauernden Nachbarn uns das Schicksal Polens angedeihen lassen.

Man verkenne nicht den Ernst unserer Lage! Für den Augenblick ist
freilich nichts zu fürchten. Sobald das letzte edle und schöne Aufflackern unsers
erlöschenden Nechtsgefühls — in Kurhessen und in Schleswig-Holstein — unter-
drückt sein wird, können die Regierungen Alles thun, was ihnen einfällt; sie
können verordnen, daß der zehnte Mann gehängt werden soll, die neun Übrig¬
bleibenden werden keinen Widerstand leisten. Es ist überall eine Mutlosigkeit
und Schlaffheit, ein Ekel an dem ganzen politischen Wesen, der sich den Schein
lächelnder Blasirtheit gibt, eine pessimistische Resignation, die etwas Unheimliches
hat. Man will ans der Geschichte nie lernen, wie eine solche Gährung allerdings
Zeit braucht, um zu explodiren, aber anch eine Zelt, wie sie langsam wächst,
ohne daß man es merkt, bis ein elektrischer Funke sie berührt, und dann jene
entsetzliche Gewalt zu ihrer eiguen Ueberraschung sich entfaltet. Wenn man in den
verschiedensten Schichten der Gesellschaft zu beobachten Gelegenheit hat, wie mehr
und mehr alle Empfindungen des Rechts, der Liebe und des Vertrauens unter¬
graben werden, was für eine Fülle von Grimm und Haß, von schlechter Leiden¬
schaft sich hinter jener anscheinenden Resignation versteckt, so muß man die heitere
Sorglosigkeit unserer Machthaber unbegreiflich siudeu. Römische und türkische
Kaiser haben sich freilich immer in solchen Zuständen bewegt; sie wußten, daß
ihnen vielleicht morgen der Strang bevorstand, so ließen sie heute uach Herzens¬
lust stranguliren. So ist aber das Verhältniß uuserer legitimen, mit dem Volk
großgewordenen Obrigkeit nicht. Sie darf nicht durch bloße Gewalt herrschen,
sie kann es nicht: denn auch unser Volk ist ein anderes als das römische und
türkische, unser Heer ein anderes, wir haben keine aus geraubten Sclavenkindern
zusammengesetzte Janitscharen, keine Prätorianer. Unsere Zustände sind auf sitt¬
liche Verhältnisse zugeschickten; wo diese gelöst werden, ist Alles in Frage gestellt.
Und man vergesse nicht, daß wir jetzt viel schlimmer stehen, als vor dem März.
Damals waren im Ganzen die Unzufriedenen eine verhältnißmäßig kleine Partei,
die Masse folgte nachher blind dem Impuls. Es war kein positiver, ans be¬
stimmte, leicht übersichtliche Ereignisse bezüglicher Haß, keine Erbitterung getäusch¬
ter Hoffnungen, kein Ingrimm verletzten Selbstgefühls im Volke vorhanden.
Heute ist es umgekehrt. Die Zufriedenen siud eine Partei.

Diese Betrachtungen sollen keine müßige Deklamation sein. Ein unvermeid¬
liches Uebel zu prophezeien, wäre ein sehr müßiges Geschäft. Das Uebel ist
aber uicht unvermeidlich. Fortwährend vernachlässigt, bietet die Geschichte
den deutschen Staaten fortwährend neue Gelegenheiten, sich zu rehabilitireu. Das
gibt auch den Machthabern Muth: wie so Mancher, der seine Buße bis zum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/150>, abgerufen am 24.08.2024.