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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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hier alle Gedanken des Vorhergegangenen concentriren. Die musikalischen Com¬
binationen sind in ihm so reichlich und mit so vieler Kunst angelegt, daß er beim
ersten Hören anch dem Kunstverständigen sich nicht erschließt, wozu noch kömmt,
daß seine übergroße Ausdehnung und die prächtige und glänzende Jnstrumentation
theils ermüden, theils von dein ruhigen Verfolgen des ziemlich complicirt ange¬
legten Planes abziehen. Wir begegnen hier das erstemal dem überwiegenden
Vorwalten der Reflexion, welche von nun an sich immer mehr und mehr in den
Vordergrund drängt. Die Leichtigkeit und Natürlichkeit der vorhergehenden Pe¬
riode ist verschwunden, sie taucht blos hier und dort als freundlicher Gruß ans
der Vergangenheit ans, das Erliste und Großartige und eine bestimmte Willens¬
kraft tritt ans, vorsätzlich jede instinetmäßige Handhabung der Kunst zurückstoßend.
Doch muß dem deutschen Künstler zur Ehre nachgesagt werden, daß bei ihm die¬
ses Bestreben entstanden ist in der künstlerischen, edlen Absicht, seinem Stoffe in
jeder Beziehung gerecht zu werden, Berlioz aber und seine Schule sind bis jetzt
immer koch an der gesuchten Darstellung des Aeußerlichen gescheitert, sie sind für
einzelne Fälle geistreich geworden, aber die Summe aller ihrer geistreichen Ein¬
fälle wiegt an Qualität geringer, als an Quantität. In dieser ernsten Richtung
nähert sich Schumann der vergangenen classischen Periode, ohne jedoch zu ir¬
gend einer Zeit strenger Nachfolger zu sein, denn wenn er auch seiue Schreib¬
art auf die Kunst des Contrapunkts stützt und im Allgemeinen die heilig geachteten
Kunstformen zur Basis seiner Operationen anwendet, so sind eine Menge Ab¬
weichungen von dieser Bahn in seiner selbstständigen Natur begründet, so wie er
auch über manches Vorurtheil der classischen Zeit sich emporgerafst hat. Schon
seine Melodien sind der Art, daß sie sich nicht der gewohnten Vorarbeitnng
fügen, sondern eine andere thematische Behandlung verlangen. Schumann's
Weise der Melodie wird unsrer nächsten Zeit als Norm dienen. Bis jetzt
aber ist und wird sie noch lange ein Hinderniß für' Schumann's Bekannt¬
werden bleiben, besonders wird darunter seiue Oper Genoveva leiden. Das
Theaterpublicnm befaßt sich nnr ungern mit ernsten, dentschen Melodien, die
Italiener und buhlerischen Künstler, wie Meyerbeer, haben ihm das Herz vergif¬
tet, aber es steht noch schlimmer, die große Masse hört überhaupt uicht mehr anf
die Musik; die Beine von Balletspringerinnen, prächtige Kleider und Kanonen¬
schläge sind die Reizmittel, welche die Masse in Thaliens Hallen locken. Die
Kunstwelt wartet mit Schmerzen anf einen Messias der Oper, es wird aber nnr
einem zweiten Glück gelingen, diesen Augiasstall ansznmisteu. Ob Schumann die¬
sen Beruf hat? Es ist kaum glaublich, wenigstens werden bei ihm noch manche
Erfahrungen im praktischen Leben lind ein tüchtiges, auf den Kern der Sache
gehendes Studium unserer dramatischen Tonsetzer, sogar der trivialern, voraus-
zusetzen sein. Anzuerkennen ist in seiner ersten Oper "Genoveva" der Ernst,
mit welchem er seine Aufgabe behandelte, der Muth, alle Ungehörigsten zu ver-


hier alle Gedanken des Vorhergegangenen concentriren. Die musikalischen Com¬
binationen sind in ihm so reichlich und mit so vieler Kunst angelegt, daß er beim
ersten Hören anch dem Kunstverständigen sich nicht erschließt, wozu noch kömmt,
daß seine übergroße Ausdehnung und die prächtige und glänzende Jnstrumentation
theils ermüden, theils von dein ruhigen Verfolgen des ziemlich complicirt ange¬
legten Planes abziehen. Wir begegnen hier das erstemal dem überwiegenden
Vorwalten der Reflexion, welche von nun an sich immer mehr und mehr in den
Vordergrund drängt. Die Leichtigkeit und Natürlichkeit der vorhergehenden Pe¬
riode ist verschwunden, sie taucht blos hier und dort als freundlicher Gruß ans
der Vergangenheit ans, das Erliste und Großartige und eine bestimmte Willens¬
kraft tritt ans, vorsätzlich jede instinetmäßige Handhabung der Kunst zurückstoßend.
Doch muß dem deutschen Künstler zur Ehre nachgesagt werden, daß bei ihm die¬
ses Bestreben entstanden ist in der künstlerischen, edlen Absicht, seinem Stoffe in
jeder Beziehung gerecht zu werden, Berlioz aber und seine Schule sind bis jetzt
immer koch an der gesuchten Darstellung des Aeußerlichen gescheitert, sie sind für
einzelne Fälle geistreich geworden, aber die Summe aller ihrer geistreichen Ein¬
fälle wiegt an Qualität geringer, als an Quantität. In dieser ernsten Richtung
nähert sich Schumann der vergangenen classischen Periode, ohne jedoch zu ir¬
gend einer Zeit strenger Nachfolger zu sein, denn wenn er auch seiue Schreib¬
art auf die Kunst des Contrapunkts stützt und im Allgemeinen die heilig geachteten
Kunstformen zur Basis seiner Operationen anwendet, so sind eine Menge Ab¬
weichungen von dieser Bahn in seiner selbstständigen Natur begründet, so wie er
auch über manches Vorurtheil der classischen Zeit sich emporgerafst hat. Schon
seine Melodien sind der Art, daß sie sich nicht der gewohnten Vorarbeitnng
fügen, sondern eine andere thematische Behandlung verlangen. Schumann's
Weise der Melodie wird unsrer nächsten Zeit als Norm dienen. Bis jetzt
aber ist und wird sie noch lange ein Hinderniß für' Schumann's Bekannt¬
werden bleiben, besonders wird darunter seiue Oper Genoveva leiden. Das
Theaterpublicnm befaßt sich nnr ungern mit ernsten, dentschen Melodien, die
Italiener und buhlerischen Künstler, wie Meyerbeer, haben ihm das Herz vergif¬
tet, aber es steht noch schlimmer, die große Masse hört überhaupt uicht mehr anf
die Musik; die Beine von Balletspringerinnen, prächtige Kleider und Kanonen¬
schläge sind die Reizmittel, welche die Masse in Thaliens Hallen locken. Die
Kunstwelt wartet mit Schmerzen anf einen Messias der Oper, es wird aber nnr
einem zweiten Glück gelingen, diesen Augiasstall ansznmisteu. Ob Schumann die¬
sen Beruf hat? Es ist kaum glaublich, wenigstens werden bei ihm noch manche
Erfahrungen im praktischen Leben lind ein tüchtiges, auf den Kern der Sache
gehendes Studium unserer dramatischen Tonsetzer, sogar der trivialern, voraus-
zusetzen sein. Anzuerkennen ist in seiner ersten Oper „Genoveva" der Ernst,
mit welchem er seine Aufgabe behandelte, der Muth, alle Ungehörigsten zu ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/14>, abgerufen am 24.08.2024.