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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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früheren von den barmherzigen Schwestern Verpflichteten gesetzt, dnrch russische Köche
vertrieb man die polnischen Köchinnen und das Lehramt bei den Findelkindern
wurde den barmherzigen Schwestern entnommen und russischen Offizieren über¬
tragen. -- Die barmherzigen Schwestern, welche mit dem Eintritt in das Kloster
diesem ihr ganzes Vermögen vermacht hatten, welches niemals unter dreißigtau¬
send (?) Gulden betragen durfte, waren dadurch bloße Krankenwärterinnen geworden.

Das Findelhaus erschien der Negierung als eine schätzenswerthe Hilfe, sowohl
die Bevölkerung ihres öden Gebietes als auch die Russifiziruug Polens zu beför¬
dern, und wenn dabei ein nachtheiliger Einfluß ans die Sittlichkeit als eine unver¬
meidliche Bedingung hervortrat, so hatte dies, gegenüber dem Prinzip, keine große
Bedeutung. Als ich bei meiner letzten Anwesenheit in Warschau das "Kindlein
Jesus" besuchte -- Mittags nach ein Uhr -- befand sich eine gemeine Frau an
der Wiege beim Eingänge und legte ohne Furcht ein in Windeln gewickeltes Kind
in dieselbe. Als ich dieselbe barmherzige Schwester, welche mir sechs Jahre früher
so freundschaftlich die Besichtigung der Anstalt gestattet hatte, frug, woher eine
solche Erscheinung komme, sagie sie mit großer Bitterkeit: "Mein Herr, dieselbe
Frage müßten Sie, das ""Kindlein Jesus"" durchschreitend, jetzt mindestens
zweihnndertmal thun, denn Sie finden alle Verhältnisse, vom ersten bis letzten,
gänzlich verändert und müssen dies sehr natürlich finden, wenn Sie Leute mit
Epauletten und Federhüten in diesen einst so heiligen Räumen umherlaufen sehen,
wie in einer Regimentskanzlei." Die Kinder waren nach ihrer Aussage jetzt
nicht mehr ein Eigenthum der Anstalt, sondern des Kaisers, so wie die Anstalt
selbst seit ihrer Umgestaltung von dem Kaiser als ein Eigenthum betrachtet wurde,
für welches sie einleitungsweise bereits die Kaiserin als Procuratvrin angesehen
hatte. Ebenso wie früher das Unterbringen der Findlinge in der Anstalt - er¬
schwert worden, so wurde es jetzt erleichtert. Das abgeschmackte Einsaugen der
Kinderträgcrinnen und der Zwang der Mütter zum Ammendienst war gänzlich
aufgehoben, desgleichen die Entrichtung einer Geldsumme. Während sich früher die
armen Dirnen bei Nacht hatten heranschleichen müsse", um ihre Kinder ohne eigene
Gefahr an das Findelhaus zu bringen, kamen sie jetzt ganz 'ungenirt zu jeder
Stunde des Tags; und während früher viele uneheliche Kinder vou ihren Müt¬
tern erzogen wurden, weil diese sich jener Gefahr nicht aussetzen mochten, wurden
jetzt ohne Ausnahme alle dem Findelhause übergeben. Ja selbst Eheleute gingen
hin und lieferten ihre Kinder in das Findelhaus, um sie uicht ernähren und kleiden
zu müssen. So war nach Aussage der barmherzigen Schwester der Fall vor¬
gekommen, daß eilte Mutter ihre sämmtlichen vier Kinder in die Anstalt ge¬
bracht hatte, und einem Manne hatte es sogar mehre Tage vor meinem letzten
Besuche des Hauses beliebt, seine drei schon halb erwachsenen Kinder zum Thor
hcreiuzustoßeu und sich ohne Weiteres kaltblütig zu entfernen.

Die Aushebung aller erschwerenden Umstände hatte ein ungeheures Zunehmen


früheren von den barmherzigen Schwestern Verpflichteten gesetzt, dnrch russische Köche
vertrieb man die polnischen Köchinnen und das Lehramt bei den Findelkindern
wurde den barmherzigen Schwestern entnommen und russischen Offizieren über¬
tragen. — Die barmherzigen Schwestern, welche mit dem Eintritt in das Kloster
diesem ihr ganzes Vermögen vermacht hatten, welches niemals unter dreißigtau¬
send (?) Gulden betragen durfte, waren dadurch bloße Krankenwärterinnen geworden.

Das Findelhaus erschien der Negierung als eine schätzenswerthe Hilfe, sowohl
die Bevölkerung ihres öden Gebietes als auch die Russifiziruug Polens zu beför¬
dern, und wenn dabei ein nachtheiliger Einfluß ans die Sittlichkeit als eine unver¬
meidliche Bedingung hervortrat, so hatte dies, gegenüber dem Prinzip, keine große
Bedeutung. Als ich bei meiner letzten Anwesenheit in Warschau das „Kindlein
Jesus" besuchte — Mittags nach ein Uhr — befand sich eine gemeine Frau an
der Wiege beim Eingänge und legte ohne Furcht ein in Windeln gewickeltes Kind
in dieselbe. Als ich dieselbe barmherzige Schwester, welche mir sechs Jahre früher
so freundschaftlich die Besichtigung der Anstalt gestattet hatte, frug, woher eine
solche Erscheinung komme, sagie sie mit großer Bitterkeit: „Mein Herr, dieselbe
Frage müßten Sie, das „„Kindlein Jesus"" durchschreitend, jetzt mindestens
zweihnndertmal thun, denn Sie finden alle Verhältnisse, vom ersten bis letzten,
gänzlich verändert und müssen dies sehr natürlich finden, wenn Sie Leute mit
Epauletten und Federhüten in diesen einst so heiligen Räumen umherlaufen sehen,
wie in einer Regimentskanzlei." Die Kinder waren nach ihrer Aussage jetzt
nicht mehr ein Eigenthum der Anstalt, sondern des Kaisers, so wie die Anstalt
selbst seit ihrer Umgestaltung von dem Kaiser als ein Eigenthum betrachtet wurde,
für welches sie einleitungsweise bereits die Kaiserin als Procuratvrin angesehen
hatte. Ebenso wie früher das Unterbringen der Findlinge in der Anstalt - er¬
schwert worden, so wurde es jetzt erleichtert. Das abgeschmackte Einsaugen der
Kinderträgcrinnen und der Zwang der Mütter zum Ammendienst war gänzlich
aufgehoben, desgleichen die Entrichtung einer Geldsumme. Während sich früher die
armen Dirnen bei Nacht hatten heranschleichen müsse», um ihre Kinder ohne eigene
Gefahr an das Findelhaus zu bringen, kamen sie jetzt ganz 'ungenirt zu jeder
Stunde des Tags; und während früher viele uneheliche Kinder vou ihren Müt¬
tern erzogen wurden, weil diese sich jener Gefahr nicht aussetzen mochten, wurden
jetzt ohne Ausnahme alle dem Findelhause übergeben. Ja selbst Eheleute gingen
hin und lieferten ihre Kinder in das Findelhaus, um sie uicht ernähren und kleiden
zu müssen. So war nach Aussage der barmherzigen Schwester der Fall vor¬
gekommen, daß eilte Mutter ihre sämmtlichen vier Kinder in die Anstalt ge¬
bracht hatte, und einem Manne hatte es sogar mehre Tage vor meinem letzten
Besuche des Hauses beliebt, seine drei schon halb erwachsenen Kinder zum Thor
hcreiuzustoßeu und sich ohne Weiteres kaltblütig zu entfernen.

Die Aushebung aller erschwerenden Umstände hatte ein ungeheures Zunehmen


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[0072] früheren von den barmherzigen Schwestern Verpflichteten gesetzt, dnrch russische Köche vertrieb man die polnischen Köchinnen und das Lehramt bei den Findelkindern wurde den barmherzigen Schwestern entnommen und russischen Offizieren über¬ tragen. — Die barmherzigen Schwestern, welche mit dem Eintritt in das Kloster diesem ihr ganzes Vermögen vermacht hatten, welches niemals unter dreißigtau¬ send (?) Gulden betragen durfte, waren dadurch bloße Krankenwärterinnen geworden. Das Findelhaus erschien der Negierung als eine schätzenswerthe Hilfe, sowohl die Bevölkerung ihres öden Gebietes als auch die Russifiziruug Polens zu beför¬ dern, und wenn dabei ein nachtheiliger Einfluß ans die Sittlichkeit als eine unver¬ meidliche Bedingung hervortrat, so hatte dies, gegenüber dem Prinzip, keine große Bedeutung. Als ich bei meiner letzten Anwesenheit in Warschau das „Kindlein Jesus" besuchte — Mittags nach ein Uhr — befand sich eine gemeine Frau an der Wiege beim Eingänge und legte ohne Furcht ein in Windeln gewickeltes Kind in dieselbe. Als ich dieselbe barmherzige Schwester, welche mir sechs Jahre früher so freundschaftlich die Besichtigung der Anstalt gestattet hatte, frug, woher eine solche Erscheinung komme, sagie sie mit großer Bitterkeit: „Mein Herr, dieselbe Frage müßten Sie, das „„Kindlein Jesus"" durchschreitend, jetzt mindestens zweihnndertmal thun, denn Sie finden alle Verhältnisse, vom ersten bis letzten, gänzlich verändert und müssen dies sehr natürlich finden, wenn Sie Leute mit Epauletten und Federhüten in diesen einst so heiligen Räumen umherlaufen sehen, wie in einer Regimentskanzlei." Die Kinder waren nach ihrer Aussage jetzt nicht mehr ein Eigenthum der Anstalt, sondern des Kaisers, so wie die Anstalt selbst seit ihrer Umgestaltung von dem Kaiser als ein Eigenthum betrachtet wurde, für welches sie einleitungsweise bereits die Kaiserin als Procuratvrin angesehen hatte. Ebenso wie früher das Unterbringen der Findlinge in der Anstalt - er¬ schwert worden, so wurde es jetzt erleichtert. Das abgeschmackte Einsaugen der Kinderträgcrinnen und der Zwang der Mütter zum Ammendienst war gänzlich aufgehoben, desgleichen die Entrichtung einer Geldsumme. Während sich früher die armen Dirnen bei Nacht hatten heranschleichen müsse», um ihre Kinder ohne eigene Gefahr an das Findelhaus zu bringen, kamen sie jetzt ganz 'ungenirt zu jeder Stunde des Tags; und während früher viele uneheliche Kinder vou ihren Müt¬ tern erzogen wurden, weil diese sich jener Gefahr nicht aussetzen mochten, wurden jetzt ohne Ausnahme alle dem Findelhause übergeben. Ja selbst Eheleute gingen hin und lieferten ihre Kinder in das Findelhaus, um sie uicht ernähren und kleiden zu müssen. So war nach Aussage der barmherzigen Schwester der Fall vor¬ gekommen, daß eilte Mutter ihre sämmtlichen vier Kinder in die Anstalt ge¬ bracht hatte, und einem Manne hatte es sogar mehre Tage vor meinem letzten Besuche des Hauses beliebt, seine drei schon halb erwachsenen Kinder zum Thor hcreiuzustoßeu und sich ohne Weiteres kaltblütig zu entfernen. Die Aushebung aller erschwerenden Umstände hatte ein ungeheures Zunehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/72>, abgerufen am 01.09.2024.