Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Ablieferung, ja auch der Geburten unehelicher Kinder hervorgebracht. Vom
Jahre 1819 bis 1830 hatte das Findelhaus im Durchschnitt jährlich zweihun¬
dertundachtzig, vom Jahre 1832 bis 1839 durchschnittlich dreihundertuudsiiufzehn,
vom Jahre 1840 bis 184K aber im Durchschnitt siebeuhuudcrtundneuuzig Kinder
erhalten, und von 1840 bis 1846 hatte die Steigerung jährlich 11 Procent
betragen.

Betrachtet man die Verhältnisse, in welchen die Freudenhäuser zum Polizei¬
wesen stehen, wie die Polizei gestattet, daß die 340 Kaffeehäuser zugleich Freuden¬
häuser siud und sich die Bordelle täglich vermehren; betrachtet man die skandaleusen
polizeilichen Begünstigungen der Maitressenwirthschaft, die polizeiliche Schujzlosigkeit
der Eherechte und vieles audere, so ist es schwer, sich deu Verdacht fern zu halten,
daß die Negierung recht geflissentlich die Sittlichkeit in Polen verringern Hilfe, um
die neuen polnischen Geschlechter ihres Markes zu berauben.

Das Wachsthum der Volkszahl ist allerdings ein Grund zur völligen Frei-
gebung des Findelhauses gewesen. Ein anderer Grund aber ist der, die polnischen
Fiudelkuaben zur Vernichtung der polnischen Nationalität zu gebrauchen. Seit
nämlich die Anstalt und Mit ihr die Zöglinge ein Eigenthum der russischen Krone
geworden, dürfen die Knaben nicht mehr in polnischen Werkstätten untergebracht
und nach Erlangung eines Lehrbriefs frei gegeben, sondern müssen, sobald sie ihr
achtes Lebensjahr und die nöthige körperliche Tüchtigkeit erlangt haben, in das
Innere Rußlands transportirt werden. Hier werden sie in Militärschulen vertheilt,
lernen russische Sprache und Sitte, nehmen die griechische Religion an, werden
in alle dem bestens durch einen fünfundzwanzigjährigen Soldatendienst confirmirt,
und kehren als geborene Polen in ihr Vaterland zurück. Welchen vernichtenden
Einfluß auf die polnische Nationalität diese geborenen, vollkommen in Russen
verwandelten Polen im Umgange mit ihren Landesbrüdern ausüben, ist wohl
denkbar.

Die Zahl der Knaben, welche durch das Findelhaus alljährlich uach Rußland
gebracht werden, beilauft sich auf etwa vierhundert, und die Zahl der russifizirten
Polen, welche nun bald alljährlich regelmäßig zu Erziehung ihres Volkes in ihr
Vaterland zurückkommen werden, wird ungefähr ans die Hälfte anzuschlagen sein.
Die Hälfte der Kiuder dürste umkommen oder sich in Rußland verlieren.

Die Polen freuen sich über die Bequemlichkeit, die man ihrer schlechtesten
Leidenschaft gewährt, ohne zu begreifen, wie bei dieser Freiheit ihre edelste Leiden¬
schaft beeinträchtigt wird. Die russische Regierung freut sich natürlich auch über die
vielen Wege, welche sie sich geebnet hat, um Polen zu russifizireu. Allein in
diesem Falle dürste ihr es leicht gehen wie dein Gärtner, der Giftsamen in die
Pflanzung seines Nachbars warf und sich dabei selbst vergiftete. Diese vielen
Polen in der russischen Armee, in allen Militäranstalten des Landes, deren Demo¬
ralisation ziemlich sicher, deren russischer Patriotismus aber sehr zweifelhaft ist,


GrenMen. III. 1850. 9

der Ablieferung, ja auch der Geburten unehelicher Kinder hervorgebracht. Vom
Jahre 1819 bis 1830 hatte das Findelhaus im Durchschnitt jährlich zweihun¬
dertundachtzig, vom Jahre 1832 bis 1839 durchschnittlich dreihundertuudsiiufzehn,
vom Jahre 1840 bis 184K aber im Durchschnitt siebeuhuudcrtundneuuzig Kinder
erhalten, und von 1840 bis 1846 hatte die Steigerung jährlich 11 Procent
betragen.

Betrachtet man die Verhältnisse, in welchen die Freudenhäuser zum Polizei¬
wesen stehen, wie die Polizei gestattet, daß die 340 Kaffeehäuser zugleich Freuden¬
häuser siud und sich die Bordelle täglich vermehren; betrachtet man die skandaleusen
polizeilichen Begünstigungen der Maitressenwirthschaft, die polizeiliche Schujzlosigkeit
der Eherechte und vieles audere, so ist es schwer, sich deu Verdacht fern zu halten,
daß die Negierung recht geflissentlich die Sittlichkeit in Polen verringern Hilfe, um
die neuen polnischen Geschlechter ihres Markes zu berauben.

Das Wachsthum der Volkszahl ist allerdings ein Grund zur völligen Frei-
gebung des Findelhauses gewesen. Ein anderer Grund aber ist der, die polnischen
Fiudelkuaben zur Vernichtung der polnischen Nationalität zu gebrauchen. Seit
nämlich die Anstalt und Mit ihr die Zöglinge ein Eigenthum der russischen Krone
geworden, dürfen die Knaben nicht mehr in polnischen Werkstätten untergebracht
und nach Erlangung eines Lehrbriefs frei gegeben, sondern müssen, sobald sie ihr
achtes Lebensjahr und die nöthige körperliche Tüchtigkeit erlangt haben, in das
Innere Rußlands transportirt werden. Hier werden sie in Militärschulen vertheilt,
lernen russische Sprache und Sitte, nehmen die griechische Religion an, werden
in alle dem bestens durch einen fünfundzwanzigjährigen Soldatendienst confirmirt,
und kehren als geborene Polen in ihr Vaterland zurück. Welchen vernichtenden
Einfluß auf die polnische Nationalität diese geborenen, vollkommen in Russen
verwandelten Polen im Umgange mit ihren Landesbrüdern ausüben, ist wohl
denkbar.

Die Zahl der Knaben, welche durch das Findelhaus alljährlich uach Rußland
gebracht werden, beilauft sich auf etwa vierhundert, und die Zahl der russifizirten
Polen, welche nun bald alljährlich regelmäßig zu Erziehung ihres Volkes in ihr
Vaterland zurückkommen werden, wird ungefähr ans die Hälfte anzuschlagen sein.
Die Hälfte der Kiuder dürste umkommen oder sich in Rußland verlieren.

Die Polen freuen sich über die Bequemlichkeit, die man ihrer schlechtesten
Leidenschaft gewährt, ohne zu begreifen, wie bei dieser Freiheit ihre edelste Leiden¬
schaft beeinträchtigt wird. Die russische Regierung freut sich natürlich auch über die
vielen Wege, welche sie sich geebnet hat, um Polen zu russifizireu. Allein in
diesem Falle dürste ihr es leicht gehen wie dein Gärtner, der Giftsamen in die
Pflanzung seines Nachbars warf und sich dabei selbst vergiftete. Diese vielen
Polen in der russischen Armee, in allen Militäranstalten des Landes, deren Demo¬
ralisation ziemlich sicher, deren russischer Patriotismus aber sehr zweifelhaft ist,


GrenMen. III. 1850. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85656"/>
          <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250"> der Ablieferung, ja auch der Geburten unehelicher Kinder hervorgebracht. Vom<lb/>
Jahre 1819 bis 1830 hatte das Findelhaus im Durchschnitt jährlich zweihun¬<lb/>
dertundachtzig, vom Jahre 1832 bis 1839 durchschnittlich dreihundertuudsiiufzehn,<lb/>
vom Jahre 1840 bis 184K aber im Durchschnitt siebeuhuudcrtundneuuzig Kinder<lb/>
erhalten, und von 1840 bis 1846 hatte die Steigerung jährlich 11 Procent<lb/>
betragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252"> Betrachtet man die Verhältnisse, in welchen die Freudenhäuser zum Polizei¬<lb/>
wesen stehen, wie die Polizei gestattet, daß die 340 Kaffeehäuser zugleich Freuden¬<lb/>
häuser siud und sich die Bordelle täglich vermehren; betrachtet man die skandaleusen<lb/>
polizeilichen Begünstigungen der Maitressenwirthschaft, die polizeiliche Schujzlosigkeit<lb/>
der Eherechte und vieles audere, so ist es schwer, sich deu Verdacht fern zu halten,<lb/>
daß die Negierung recht geflissentlich die Sittlichkeit in Polen verringern Hilfe, um<lb/>
die neuen polnischen Geschlechter ihres Markes zu berauben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_253"> Das Wachsthum der Volkszahl ist allerdings ein Grund zur völligen Frei-<lb/>
gebung des Findelhauses gewesen. Ein anderer Grund aber ist der, die polnischen<lb/>
Fiudelkuaben zur Vernichtung der polnischen Nationalität zu gebrauchen. Seit<lb/>
nämlich die Anstalt und Mit ihr die Zöglinge ein Eigenthum der russischen Krone<lb/>
geworden, dürfen die Knaben nicht mehr in polnischen Werkstätten untergebracht<lb/>
und nach Erlangung eines Lehrbriefs frei gegeben, sondern müssen, sobald sie ihr<lb/>
achtes Lebensjahr und die nöthige körperliche Tüchtigkeit erlangt haben, in das<lb/>
Innere Rußlands transportirt werden. Hier werden sie in Militärschulen vertheilt,<lb/>
lernen russische Sprache und Sitte, nehmen die griechische Religion an, werden<lb/>
in alle dem bestens durch einen fünfundzwanzigjährigen Soldatendienst confirmirt,<lb/>
und kehren als geborene Polen in ihr Vaterland zurück. Welchen vernichtenden<lb/>
Einfluß auf die polnische Nationalität diese geborenen, vollkommen in Russen<lb/>
verwandelten Polen im Umgange mit ihren Landesbrüdern ausüben, ist wohl<lb/>
denkbar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_254"> Die Zahl der Knaben, welche durch das Findelhaus alljährlich uach Rußland<lb/>
gebracht werden, beilauft sich auf etwa vierhundert, und die Zahl der russifizirten<lb/>
Polen, welche nun bald alljährlich regelmäßig zu Erziehung ihres Volkes in ihr<lb/>
Vaterland zurückkommen werden, wird ungefähr ans die Hälfte anzuschlagen sein.<lb/>
Die Hälfte der Kiuder dürste umkommen oder sich in Rußland verlieren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_255" next="#ID_256"> Die Polen freuen sich über die Bequemlichkeit, die man ihrer schlechtesten<lb/>
Leidenschaft gewährt, ohne zu begreifen, wie bei dieser Freiheit ihre edelste Leiden¬<lb/>
schaft beeinträchtigt wird. Die russische Regierung freut sich natürlich auch über die<lb/>
vielen Wege, welche sie sich geebnet hat, um Polen zu russifizireu. Allein in<lb/>
diesem Falle dürste ihr es leicht gehen wie dein Gärtner, der Giftsamen in die<lb/>
Pflanzung seines Nachbars warf und sich dabei selbst vergiftete. Diese vielen<lb/>
Polen in der russischen Armee, in allen Militäranstalten des Landes, deren Demo¬<lb/>
ralisation ziemlich sicher, deren russischer Patriotismus aber sehr zweifelhaft ist,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrenMen. III. 1850. 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] der Ablieferung, ja auch der Geburten unehelicher Kinder hervorgebracht. Vom Jahre 1819 bis 1830 hatte das Findelhaus im Durchschnitt jährlich zweihun¬ dertundachtzig, vom Jahre 1832 bis 1839 durchschnittlich dreihundertuudsiiufzehn, vom Jahre 1840 bis 184K aber im Durchschnitt siebeuhuudcrtundneuuzig Kinder erhalten, und von 1840 bis 1846 hatte die Steigerung jährlich 11 Procent betragen. Betrachtet man die Verhältnisse, in welchen die Freudenhäuser zum Polizei¬ wesen stehen, wie die Polizei gestattet, daß die 340 Kaffeehäuser zugleich Freuden¬ häuser siud und sich die Bordelle täglich vermehren; betrachtet man die skandaleusen polizeilichen Begünstigungen der Maitressenwirthschaft, die polizeiliche Schujzlosigkeit der Eherechte und vieles audere, so ist es schwer, sich deu Verdacht fern zu halten, daß die Negierung recht geflissentlich die Sittlichkeit in Polen verringern Hilfe, um die neuen polnischen Geschlechter ihres Markes zu berauben. Das Wachsthum der Volkszahl ist allerdings ein Grund zur völligen Frei- gebung des Findelhauses gewesen. Ein anderer Grund aber ist der, die polnischen Fiudelkuaben zur Vernichtung der polnischen Nationalität zu gebrauchen. Seit nämlich die Anstalt und Mit ihr die Zöglinge ein Eigenthum der russischen Krone geworden, dürfen die Knaben nicht mehr in polnischen Werkstätten untergebracht und nach Erlangung eines Lehrbriefs frei gegeben, sondern müssen, sobald sie ihr achtes Lebensjahr und die nöthige körperliche Tüchtigkeit erlangt haben, in das Innere Rußlands transportirt werden. Hier werden sie in Militärschulen vertheilt, lernen russische Sprache und Sitte, nehmen die griechische Religion an, werden in alle dem bestens durch einen fünfundzwanzigjährigen Soldatendienst confirmirt, und kehren als geborene Polen in ihr Vaterland zurück. Welchen vernichtenden Einfluß auf die polnische Nationalität diese geborenen, vollkommen in Russen verwandelten Polen im Umgange mit ihren Landesbrüdern ausüben, ist wohl denkbar. Die Zahl der Knaben, welche durch das Findelhaus alljährlich uach Rußland gebracht werden, beilauft sich auf etwa vierhundert, und die Zahl der russifizirten Polen, welche nun bald alljährlich regelmäßig zu Erziehung ihres Volkes in ihr Vaterland zurückkommen werden, wird ungefähr ans die Hälfte anzuschlagen sein. Die Hälfte der Kiuder dürste umkommen oder sich in Rußland verlieren. Die Polen freuen sich über die Bequemlichkeit, die man ihrer schlechtesten Leidenschaft gewährt, ohne zu begreifen, wie bei dieser Freiheit ihre edelste Leiden¬ schaft beeinträchtigt wird. Die russische Regierung freut sich natürlich auch über die vielen Wege, welche sie sich geebnet hat, um Polen zu russifizireu. Allein in diesem Falle dürste ihr es leicht gehen wie dein Gärtner, der Giftsamen in die Pflanzung seines Nachbars warf und sich dabei selbst vergiftete. Diese vielen Polen in der russischen Armee, in allen Militäranstalten des Landes, deren Demo¬ ralisation ziemlich sicher, deren russischer Patriotismus aber sehr zweifelhaft ist, GrenMen. III. 1850. 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/73>, abgerufen am 27.07.2024.