Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Nachtdienst zu leisten hat, mehrere Kinder nach einander an die Brust legen
und beruhigen muß.

Nachdem die Kinder vier Wochen lang gesängt worden, vergibt sie die An¬
stalt an Bauersleute und läßt sie von diesen bis zum fünften Lebensjahre erzie¬
hen. Für ein jedes Kind zahlt sie dann allhalbjährlich 1 Thlr. 8 Ngr. Mit dem
zurückgelegten fünften Jahre mußten, und müssen noch- jetzt die Kinder zurückge¬
bracht werden und genießen nun der Pflege und des nöthigen Unterrichts in der
Anstalt einige Jahre lang, früher sowohl die Knaben als die Mädchen bis zum
vierzehnten Jahre. Sie wurden dann aus der Anstalt entfernt, die Mädchen
in Dienste, die Knaben in Werkstätten vergeben; doch blieben sie noch einige
Tage unter der Vormundschaft und Fürsorge der Anstalt, wenn dieser die Kinder
nicht förmlich abgekauft waren; und dies konnte und durste stattfinden. Der
Käufer hatte der Anstalt für ein Kind, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts,
vierzig Gulden zu zahlen und gewann dadurch ein förmliches Leibherrnrecht über
dasselbe, ohne gerade zugleich Vaterpflichten zu übernehmen. Um die Osterzeit
wurde derartiger Menschenhandel abgemacht. Besonders pflegten sich viele lüsterne
Herren zum Kaufe hübscher Findelmädchen einzufinden.

Der Kauf von Mädchen findet auch jetzt noch statt. Die andern Verhält¬
nisse aber haben sich gänzlich, und zwar theilweis zur Beschämung der frühern
Directum des Findelhauses verändert. Die russische Regierung hatte sich schon
vom Jahre 1834 mehr und mehr der polnischen Schulen und Erziehungsanstal¬
ten zu bemächtigen gesucht, um die Russifizirung des polnischen Volks recht gründ¬
lich .angreifen zu können. Ueber die politischen Gymnasien wurde mit dem Titel
Procurator des polnischen Schulwesens ein russischer Geueral gesetzt, Und der
erste und berüchtigtste dieser Schulgenerale verstand es nicht blos, die beiden
obersten Classen der Gymnasien aufzuheben, oder vielmehr in Städte des
innern Rußlands zu verlegen und so den Polen die Anwartschaft auf die
wichtigeren Staatsämter zu entziehen, sondern auch Anstalten, die nicht in seinem
Bereiche lagen, in den russischen Plan zu schieben. Durch seine Vermittelung
waren bereits eine Meuge Mädchenerziehungsanstalten, unter andern auch die be¬
rühmte, jetzt von den Polen fast ganz verlassene alexandrinische Schule, genö-
thigt worden, die Kaiserin zur Vorsteherin zu wählen. Endlich hatte er es auch
beim Fiudclhause so weit gebracht, und nun war es der Negierung ein Leichtes
mit diesem, und dem ganzen Kindlein Jesus, zu machen, was man wollte. Im
Jahre 40 kam das Schicksal über sie; die geistliche polnische Direction wurde
aufgehoben, eine militärisch russische eingesetzt und die Stiftung zu politischen
Zwecken in ein öffentliches Institut verwandelt.

Ein Oberst, Namens Lepigv, erhielt die Direction; eine Menge geringerer
Soldaten wurde in das Kloster gesetzt, um den Haushalt zu besorgen, die Rech¬
nungen zu führen und Anderes zu thun. Es wurden Militärärzte an die Stelle der


den Nachtdienst zu leisten hat, mehrere Kinder nach einander an die Brust legen
und beruhigen muß.

Nachdem die Kinder vier Wochen lang gesängt worden, vergibt sie die An¬
stalt an Bauersleute und läßt sie von diesen bis zum fünften Lebensjahre erzie¬
hen. Für ein jedes Kind zahlt sie dann allhalbjährlich 1 Thlr. 8 Ngr. Mit dem
zurückgelegten fünften Jahre mußten, und müssen noch- jetzt die Kinder zurückge¬
bracht werden und genießen nun der Pflege und des nöthigen Unterrichts in der
Anstalt einige Jahre lang, früher sowohl die Knaben als die Mädchen bis zum
vierzehnten Jahre. Sie wurden dann aus der Anstalt entfernt, die Mädchen
in Dienste, die Knaben in Werkstätten vergeben; doch blieben sie noch einige
Tage unter der Vormundschaft und Fürsorge der Anstalt, wenn dieser die Kinder
nicht förmlich abgekauft waren; und dies konnte und durste stattfinden. Der
Käufer hatte der Anstalt für ein Kind, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts,
vierzig Gulden zu zahlen und gewann dadurch ein förmliches Leibherrnrecht über
dasselbe, ohne gerade zugleich Vaterpflichten zu übernehmen. Um die Osterzeit
wurde derartiger Menschenhandel abgemacht. Besonders pflegten sich viele lüsterne
Herren zum Kaufe hübscher Findelmädchen einzufinden.

Der Kauf von Mädchen findet auch jetzt noch statt. Die andern Verhält¬
nisse aber haben sich gänzlich, und zwar theilweis zur Beschämung der frühern
Directum des Findelhauses verändert. Die russische Regierung hatte sich schon
vom Jahre 1834 mehr und mehr der polnischen Schulen und Erziehungsanstal¬
ten zu bemächtigen gesucht, um die Russifizirung des polnischen Volks recht gründ¬
lich .angreifen zu können. Ueber die politischen Gymnasien wurde mit dem Titel
Procurator des polnischen Schulwesens ein russischer Geueral gesetzt, Und der
erste und berüchtigtste dieser Schulgenerale verstand es nicht blos, die beiden
obersten Classen der Gymnasien aufzuheben, oder vielmehr in Städte des
innern Rußlands zu verlegen und so den Polen die Anwartschaft auf die
wichtigeren Staatsämter zu entziehen, sondern auch Anstalten, die nicht in seinem
Bereiche lagen, in den russischen Plan zu schieben. Durch seine Vermittelung
waren bereits eine Meuge Mädchenerziehungsanstalten, unter andern auch die be¬
rühmte, jetzt von den Polen fast ganz verlassene alexandrinische Schule, genö-
thigt worden, die Kaiserin zur Vorsteherin zu wählen. Endlich hatte er es auch
beim Fiudclhause so weit gebracht, und nun war es der Negierung ein Leichtes
mit diesem, und dem ganzen Kindlein Jesus, zu machen, was man wollte. Im
Jahre 40 kam das Schicksal über sie; die geistliche polnische Direction wurde
aufgehoben, eine militärisch russische eingesetzt und die Stiftung zu politischen
Zwecken in ein öffentliches Institut verwandelt.

Ein Oberst, Namens Lepigv, erhielt die Direction; eine Menge geringerer
Soldaten wurde in das Kloster gesetzt, um den Haushalt zu besorgen, die Rech¬
nungen zu führen und Anderes zu thun. Es wurden Militärärzte an die Stelle der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85654"/>
          <p xml:id="ID_244" prev="#ID_243"> den Nachtdienst zu leisten hat, mehrere Kinder nach einander an die Brust legen<lb/>
und beruhigen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_245"> Nachdem die Kinder vier Wochen lang gesängt worden, vergibt sie die An¬<lb/>
stalt an Bauersleute und läßt sie von diesen bis zum fünften Lebensjahre erzie¬<lb/>
hen. Für ein jedes Kind zahlt sie dann allhalbjährlich 1 Thlr. 8 Ngr. Mit dem<lb/>
zurückgelegten fünften Jahre mußten, und müssen noch- jetzt die Kinder zurückge¬<lb/>
bracht werden und genießen nun der Pflege und des nöthigen Unterrichts in der<lb/>
Anstalt einige Jahre lang, früher sowohl die Knaben als die Mädchen bis zum<lb/>
vierzehnten Jahre. Sie wurden dann aus der Anstalt entfernt, die Mädchen<lb/>
in Dienste, die Knaben in Werkstätten vergeben; doch blieben sie noch einige<lb/>
Tage unter der Vormundschaft und Fürsorge der Anstalt, wenn dieser die Kinder<lb/>
nicht förmlich abgekauft waren; und dies konnte und durste stattfinden. Der<lb/>
Käufer hatte der Anstalt für ein Kind, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts,<lb/>
vierzig Gulden zu zahlen und gewann dadurch ein förmliches Leibherrnrecht über<lb/>
dasselbe, ohne gerade zugleich Vaterpflichten zu übernehmen. Um die Osterzeit<lb/>
wurde derartiger Menschenhandel abgemacht. Besonders pflegten sich viele lüsterne<lb/>
Herren zum Kaufe hübscher Findelmädchen einzufinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_246"> Der Kauf von Mädchen findet auch jetzt noch statt. Die andern Verhält¬<lb/>
nisse aber haben sich gänzlich, und zwar theilweis zur Beschämung der frühern<lb/>
Directum des Findelhauses verändert. Die russische Regierung hatte sich schon<lb/>
vom Jahre 1834 mehr und mehr der polnischen Schulen und Erziehungsanstal¬<lb/>
ten zu bemächtigen gesucht, um die Russifizirung des polnischen Volks recht gründ¬<lb/>
lich .angreifen zu können. Ueber die politischen Gymnasien wurde mit dem Titel<lb/>
Procurator des polnischen Schulwesens ein russischer Geueral gesetzt, Und der<lb/>
erste und berüchtigtste dieser Schulgenerale verstand es nicht blos, die beiden<lb/>
obersten Classen der Gymnasien aufzuheben, oder vielmehr in Städte des<lb/>
innern Rußlands zu verlegen und so den Polen die Anwartschaft auf die<lb/>
wichtigeren Staatsämter zu entziehen, sondern auch Anstalten, die nicht in seinem<lb/>
Bereiche lagen, in den russischen Plan zu schieben. Durch seine Vermittelung<lb/>
waren bereits eine Meuge Mädchenerziehungsanstalten, unter andern auch die be¬<lb/>
rühmte, jetzt von den Polen fast ganz verlassene alexandrinische Schule, genö-<lb/>
thigt worden, die Kaiserin zur Vorsteherin zu wählen. Endlich hatte er es auch<lb/>
beim Fiudclhause so weit gebracht, und nun war es der Negierung ein Leichtes<lb/>
mit diesem, und dem ganzen Kindlein Jesus, zu machen, was man wollte. Im<lb/>
Jahre 40 kam das Schicksal über sie; die geistliche polnische Direction wurde<lb/>
aufgehoben, eine militärisch russische eingesetzt und die Stiftung zu politischen<lb/>
Zwecken in ein öffentliches Institut verwandelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_247" next="#ID_248"> Ein Oberst, Namens Lepigv, erhielt die Direction; eine Menge geringerer<lb/>
Soldaten wurde in das Kloster gesetzt, um den Haushalt zu besorgen, die Rech¬<lb/>
nungen zu führen und Anderes zu thun. Es wurden Militärärzte an die Stelle der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] den Nachtdienst zu leisten hat, mehrere Kinder nach einander an die Brust legen und beruhigen muß. Nachdem die Kinder vier Wochen lang gesängt worden, vergibt sie die An¬ stalt an Bauersleute und läßt sie von diesen bis zum fünften Lebensjahre erzie¬ hen. Für ein jedes Kind zahlt sie dann allhalbjährlich 1 Thlr. 8 Ngr. Mit dem zurückgelegten fünften Jahre mußten, und müssen noch- jetzt die Kinder zurückge¬ bracht werden und genießen nun der Pflege und des nöthigen Unterrichts in der Anstalt einige Jahre lang, früher sowohl die Knaben als die Mädchen bis zum vierzehnten Jahre. Sie wurden dann aus der Anstalt entfernt, die Mädchen in Dienste, die Knaben in Werkstätten vergeben; doch blieben sie noch einige Tage unter der Vormundschaft und Fürsorge der Anstalt, wenn dieser die Kinder nicht förmlich abgekauft waren; und dies konnte und durste stattfinden. Der Käufer hatte der Anstalt für ein Kind, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, vierzig Gulden zu zahlen und gewann dadurch ein förmliches Leibherrnrecht über dasselbe, ohne gerade zugleich Vaterpflichten zu übernehmen. Um die Osterzeit wurde derartiger Menschenhandel abgemacht. Besonders pflegten sich viele lüsterne Herren zum Kaufe hübscher Findelmädchen einzufinden. Der Kauf von Mädchen findet auch jetzt noch statt. Die andern Verhält¬ nisse aber haben sich gänzlich, und zwar theilweis zur Beschämung der frühern Directum des Findelhauses verändert. Die russische Regierung hatte sich schon vom Jahre 1834 mehr und mehr der polnischen Schulen und Erziehungsanstal¬ ten zu bemächtigen gesucht, um die Russifizirung des polnischen Volks recht gründ¬ lich .angreifen zu können. Ueber die politischen Gymnasien wurde mit dem Titel Procurator des polnischen Schulwesens ein russischer Geueral gesetzt, Und der erste und berüchtigtste dieser Schulgenerale verstand es nicht blos, die beiden obersten Classen der Gymnasien aufzuheben, oder vielmehr in Städte des innern Rußlands zu verlegen und so den Polen die Anwartschaft auf die wichtigeren Staatsämter zu entziehen, sondern auch Anstalten, die nicht in seinem Bereiche lagen, in den russischen Plan zu schieben. Durch seine Vermittelung waren bereits eine Meuge Mädchenerziehungsanstalten, unter andern auch die be¬ rühmte, jetzt von den Polen fast ganz verlassene alexandrinische Schule, genö- thigt worden, die Kaiserin zur Vorsteherin zu wählen. Endlich hatte er es auch beim Fiudclhause so weit gebracht, und nun war es der Negierung ein Leichtes mit diesem, und dem ganzen Kindlein Jesus, zu machen, was man wollte. Im Jahre 40 kam das Schicksal über sie; die geistliche polnische Direction wurde aufgehoben, eine militärisch russische eingesetzt und die Stiftung zu politischen Zwecken in ein öffentliches Institut verwandelt. Ein Oberst, Namens Lepigv, erhielt die Direction; eine Menge geringerer Soldaten wurde in das Kloster gesetzt, um den Haushalt zu besorgen, die Rech¬ nungen zu führen und Anderes zu thun. Es wurden Militärärzte an die Stelle der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/71>, abgerufen am 01.09.2024.