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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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darf mit ihnen nicht unbekannt geblieben sein. Die große Verbreitung der Chopin'-
schen Werke hat Schumann indirect sehr viel geholfen. Beide gehen lange Zeit
denselben Weg und stehen in einer innigen Wechselwirkung. In spätern Zeiten
trennte sich ihr Pfad. Chopin blieb der Romantik tren: seine ersten Werke un¬
terscheiden sich in keiner Hinsicht von seinen letzten, und wie er immer die gleiche
Materie handhabte, so goß er sie auch immer in dieselbe Form. Schumann, von
Anfang schon durch seine Nationalität tiefer und gründlicher, wendete sich immer
mehr und mehr auf einen geistig freien Weg und bewahrte sich so vor dem Einerlei,
an dem Chopin nach und nach zu Grnnde ging. Die technische Schreibweise
Beider war dieselbe, wie sie die Nach-Hummel'sche Zeit in Folge der Vervoll¬
kommnung der Instrumente geschaffen hatte. Obgleich aber Chopin Hunderte von
kleinen Noten mehr schrieb als Schumann, so war doch deö Elstern Technik leichter
der Hand einzuüben, als die spröden und cvntrapunktischen Figuren deö Letzten.

Unter den Compositionen in dieser ersten Periode sind einige Gruppen zu
unterscheiden, die zwar nicht der Zahlenreihenach einander folgen, aber hinsichtlich
ihres Inhaltes in der innigsten Verbindung stehen. Es mag hier zuerst die
Gruppe aufgestellt werden, deren einzelne Nummern sich auf die äußere Bildungs-
geschichte Schumann'ö und seiner Genossen zurückführen. Es siud dies die D a-
vidsbündlertänze (op. 6), der Carneval von Venedig (op. 9) und die
Sonate "Florestan und Eusebius," in null (op. 11). In letzterm Werke
treten die beiden Gestalten Florestan und Eusebius einander gegenüber; sie ziehen
sich wechselsweise an und stoßen sich wieder ab. Bald tritt das freundliche Wesen
des Eusebius in den Vordergrund, aber bald verdrängt ihn wieder der heißblu¬
tige, stürmische Florestan und so wogen die Wellen deö Gegensatzes hin und
wieder bis an's Ende des Werkes, ohne daß die gewünschte Versöhnung in diesem
psychischen Drama eintritt. Der Carneval (op. 9) ist ein Maskenscherz im höhern
poetischen Gewände, nicht im entferntesten zu vergleichen mit jenem polternden,
zappelnden und miauenden Hanswurst, welchen der Geiger Ernst so hänfig ans den
Schwnngsaiten seiner Saiten producirt hat. Schumann'S Carneval zerfällt in eine
Menge einzelner Stücke, deren jedes eine bestimmte Maskenfignr producirt. Es treten
auf: Arleanin, Pierrot, Kolombine ze., ferner der blasirte, noble Chopin und nicht zu
vergessen Florestan und Eusebius. Diese einzelnen Stücke sind die vortrefflichsten mu-
sikalischen Charakteristiken; die Treue und Wahrheit in der Schilderung reißt zur Be¬
wunderung hin. Bei weitem aber die Krone des gauzeu Werkes bildet das Finale:
derDavidsbündlerinar sah. Diese Gesellen mengen sich wie toll in das Gewühl
der Masken und singen dem after Kunstzopse das Spottlied: Als der Großvater
die Großmutter nahm ze. scholl in den MMons (op. 2) benutzt Schumann
dasselbe Moiiv, um in humoristischer Weise die alten Leipziger Herren zu züchtigen,
die ihn und seine jungen Genossen über die Achsel anzusehen pflegten. Die Da-
vidsbündlertänze bieten für den Uneingeweihten nicht genügend Interessantes. Die


darf mit ihnen nicht unbekannt geblieben sein. Die große Verbreitung der Chopin'-
schen Werke hat Schumann indirect sehr viel geholfen. Beide gehen lange Zeit
denselben Weg und stehen in einer innigen Wechselwirkung. In spätern Zeiten
trennte sich ihr Pfad. Chopin blieb der Romantik tren: seine ersten Werke un¬
terscheiden sich in keiner Hinsicht von seinen letzten, und wie er immer die gleiche
Materie handhabte, so goß er sie auch immer in dieselbe Form. Schumann, von
Anfang schon durch seine Nationalität tiefer und gründlicher, wendete sich immer
mehr und mehr auf einen geistig freien Weg und bewahrte sich so vor dem Einerlei,
an dem Chopin nach und nach zu Grnnde ging. Die technische Schreibweise
Beider war dieselbe, wie sie die Nach-Hummel'sche Zeit in Folge der Vervoll¬
kommnung der Instrumente geschaffen hatte. Obgleich aber Chopin Hunderte von
kleinen Noten mehr schrieb als Schumann, so war doch deö Elstern Technik leichter
der Hand einzuüben, als die spröden und cvntrapunktischen Figuren deö Letzten.

Unter den Compositionen in dieser ersten Periode sind einige Gruppen zu
unterscheiden, die zwar nicht der Zahlenreihenach einander folgen, aber hinsichtlich
ihres Inhaltes in der innigsten Verbindung stehen. Es mag hier zuerst die
Gruppe aufgestellt werden, deren einzelne Nummern sich auf die äußere Bildungs-
geschichte Schumann'ö und seiner Genossen zurückführen. Es siud dies die D a-
vidsbündlertänze (op. 6), der Carneval von Venedig (op. 9) und die
Sonate „Florestan und Eusebius," in null (op. 11). In letzterm Werke
treten die beiden Gestalten Florestan und Eusebius einander gegenüber; sie ziehen
sich wechselsweise an und stoßen sich wieder ab. Bald tritt das freundliche Wesen
des Eusebius in den Vordergrund, aber bald verdrängt ihn wieder der heißblu¬
tige, stürmische Florestan und so wogen die Wellen deö Gegensatzes hin und
wieder bis an's Ende des Werkes, ohne daß die gewünschte Versöhnung in diesem
psychischen Drama eintritt. Der Carneval (op. 9) ist ein Maskenscherz im höhern
poetischen Gewände, nicht im entferntesten zu vergleichen mit jenem polternden,
zappelnden und miauenden Hanswurst, welchen der Geiger Ernst so hänfig ans den
Schwnngsaiten seiner Saiten producirt hat. Schumann'S Carneval zerfällt in eine
Menge einzelner Stücke, deren jedes eine bestimmte Maskenfignr producirt. Es treten
auf: Arleanin, Pierrot, Kolombine ze., ferner der blasirte, noble Chopin und nicht zu
vergessen Florestan und Eusebius. Diese einzelnen Stücke sind die vortrefflichsten mu-
sikalischen Charakteristiken; die Treue und Wahrheit in der Schilderung reißt zur Be¬
wunderung hin. Bei weitem aber die Krone des gauzeu Werkes bildet das Finale:
derDavidsbündlerinar sah. Diese Gesellen mengen sich wie toll in das Gewühl
der Masken und singen dem after Kunstzopse das Spottlied: Als der Großvater
die Großmutter nahm ze. scholl in den MMons (op. 2) benutzt Schumann
dasselbe Moiiv, um in humoristischer Weise die alten Leipziger Herren zu züchtigen,
die ihn und seine jungen Genossen über die Achsel anzusehen pflegten. Die Da-
vidsbündlertänze bieten für den Uneingeweihten nicht genügend Interessantes. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/501>, abgerufen am 01.09.2024.