Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sich das Prädicat der Göttlichkeit bei Christus gründete, aus seinem Leben wcg-
demonstrirt hat.

Jene Frage läßt sich wissenschaftlich nicht lösen; der Einzelne muß sie mit
seinem Gewissen in'S Reine bringen. Die Wissenschaft hat andere Dinge zu thun,
als sich in den innern Conflict eines unreifen Gewissens zu mischen.

Aber soll die Wissenschaft nicht wenigstens vermeiden, dem Gewissen wie
dem Glauben ein Aergerniß zu geben? Ist es recht von ihr, Illusionen zu
zerstören, die viele schwache Gemüther glücklich machen? -- Diese zu allen Zeiten
vou halben Naturen aufgeregte Frage hat Oersted, dessen Buch über den
"Geist in der Natur" wir vor kurzem besprochen haben, zu seiner neuesten Schrift
Veranlassung gegeben. Die dänischen Pastoren haben sich darüber scandalisirt, daß
der ,,Geist" nicht ein Reich für sich haben, daß er nirgend anders zu finden sein
solle, als in der Natur; der eine derselben, Bischof Mynheer, hat ihn offen
angeklagt, seine Weltansicht vernichte alle Poesie und alle Religion. -- Oersted
sucht das Gegeutheil nachzuweisen.

Unbedingt wird der Beweis nicht zu führen sein. Es gibt Zeiten, wo das
Ueberwiegen der Naturwissenschaft der Ausübung der Kunst nachtheilig wird, so¬
wohl ihrer Methode als ihres Inhalts wegen. Ein Ueberwiegen der analytischen
Richtung drängt die Synthese (jede Poesie ist Synthese) in den Hintergrund, und
die Aufmerksamkeit auf die "exacten" Verhältnisse der Natur verkümmert den
Spielraum der Empfindungen. -- Andererseits wird die Naturwissenschaft durch
die Aufklärung, die sie verbreitet, die Freiheit und den Muth des Geistes, die
erste Grundlage aller schöpferischen Thätigkeit fördern, durch den Reichthum ihres
Inhalts der Phantasie neue Stoffe zuführen.

Aber die Hauptsache hat Oersted nicht gesagt. Die Wissenschaft hat keinen
Willen. Was sie erkennt, muß sie erkennen. Sie kann die Erkenntniß der
Wahrheit nicht vermeiden, und wenn man ihr auch nachweise" könnte, daß die
Welt darüber zu Grunde ginge. Sie muß es sagen, daß 2x2---4, daß das
Naturgesetz ewig und unwandelbar, daß also Wunder identisch ist mit Sinnlosig¬
keit-- sie muß es sage", und wenn alle Poesie und Religion dadurch getödtet würde.
5me,jusMa et pereat umncws! im Reich der Wissenschaft ist dieser Satz un¬
umstößlich.

Aber allerdings ist jene Anklage ebenso kindisch als abscheulich. Wir lassen
unsere dänischen Pastoren bei Seite, weil wir unsere eigene Sache zu vertreten,
pro arg, et locis zu kämpfen haben.

Uns, der jüngern deutschen Philosophie, macht die Reaction den Vorwurf,
der Humanismus oder die Aufklärung hebe die eigentliche Grundlage aller Poesie
auf -- den Geist der Anbetung, der Liebe, der Verehrung. Es wird uns das
namentlich von den neufranzösischen Jesuiten in unermüdlichen Variationen wieder
aufgetischt. Noch in einer der letzten Nummern der Revue de deux mondes kam


sich das Prädicat der Göttlichkeit bei Christus gründete, aus seinem Leben wcg-
demonstrirt hat.

Jene Frage läßt sich wissenschaftlich nicht lösen; der Einzelne muß sie mit
seinem Gewissen in'S Reine bringen. Die Wissenschaft hat andere Dinge zu thun,
als sich in den innern Conflict eines unreifen Gewissens zu mischen.

Aber soll die Wissenschaft nicht wenigstens vermeiden, dem Gewissen wie
dem Glauben ein Aergerniß zu geben? Ist es recht von ihr, Illusionen zu
zerstören, die viele schwache Gemüther glücklich machen? — Diese zu allen Zeiten
vou halben Naturen aufgeregte Frage hat Oersted, dessen Buch über den
„Geist in der Natur" wir vor kurzem besprochen haben, zu seiner neuesten Schrift
Veranlassung gegeben. Die dänischen Pastoren haben sich darüber scandalisirt, daß
der ,,Geist" nicht ein Reich für sich haben, daß er nirgend anders zu finden sein
solle, als in der Natur; der eine derselben, Bischof Mynheer, hat ihn offen
angeklagt, seine Weltansicht vernichte alle Poesie und alle Religion. — Oersted
sucht das Gegeutheil nachzuweisen.

Unbedingt wird der Beweis nicht zu führen sein. Es gibt Zeiten, wo das
Ueberwiegen der Naturwissenschaft der Ausübung der Kunst nachtheilig wird, so¬
wohl ihrer Methode als ihres Inhalts wegen. Ein Ueberwiegen der analytischen
Richtung drängt die Synthese (jede Poesie ist Synthese) in den Hintergrund, und
die Aufmerksamkeit auf die „exacten" Verhältnisse der Natur verkümmert den
Spielraum der Empfindungen. — Andererseits wird die Naturwissenschaft durch
die Aufklärung, die sie verbreitet, die Freiheit und den Muth des Geistes, die
erste Grundlage aller schöpferischen Thätigkeit fördern, durch den Reichthum ihres
Inhalts der Phantasie neue Stoffe zuführen.

Aber die Hauptsache hat Oersted nicht gesagt. Die Wissenschaft hat keinen
Willen. Was sie erkennt, muß sie erkennen. Sie kann die Erkenntniß der
Wahrheit nicht vermeiden, und wenn man ihr auch nachweise» könnte, daß die
Welt darüber zu Grunde ginge. Sie muß es sagen, daß 2x2---4, daß das
Naturgesetz ewig und unwandelbar, daß also Wunder identisch ist mit Sinnlosig¬
keit— sie muß es sage», und wenn alle Poesie und Religion dadurch getödtet würde.
5me,jusMa et pereat umncws! im Reich der Wissenschaft ist dieser Satz un¬
umstößlich.

Aber allerdings ist jene Anklage ebenso kindisch als abscheulich. Wir lassen
unsere dänischen Pastoren bei Seite, weil wir unsere eigene Sache zu vertreten,
pro arg, et locis zu kämpfen haben.

Uns, der jüngern deutschen Philosophie, macht die Reaction den Vorwurf,
der Humanismus oder die Aufklärung hebe die eigentliche Grundlage aller Poesie
auf — den Geist der Anbetung, der Liebe, der Verehrung. Es wird uns das
namentlich von den neufranzösischen Jesuiten in unermüdlichen Variationen wieder
aufgetischt. Noch in einer der letzten Nummern der Revue de deux mondes kam


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86060"/>
          <p xml:id="ID_1641" prev="#ID_1640"> sich das Prädicat der Göttlichkeit bei Christus gründete, aus seinem Leben wcg-<lb/>
demonstrirt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1642"> Jene Frage läßt sich wissenschaftlich nicht lösen; der Einzelne muß sie mit<lb/>
seinem Gewissen in'S Reine bringen. Die Wissenschaft hat andere Dinge zu thun,<lb/>
als sich in den innern Conflict eines unreifen Gewissens zu mischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1643"> Aber soll die Wissenschaft nicht wenigstens vermeiden, dem Gewissen wie<lb/>
dem Glauben ein Aergerniß zu geben? Ist es recht von ihr, Illusionen zu<lb/>
zerstören, die viele schwache Gemüther glücklich machen? &#x2014; Diese zu allen Zeiten<lb/>
vou halben Naturen aufgeregte Frage hat Oersted, dessen Buch über den<lb/>
&#x201E;Geist in der Natur" wir vor kurzem besprochen haben, zu seiner neuesten Schrift<lb/>
Veranlassung gegeben. Die dänischen Pastoren haben sich darüber scandalisirt, daß<lb/>
der ,,Geist" nicht ein Reich für sich haben, daß er nirgend anders zu finden sein<lb/>
solle, als in der Natur; der eine derselben, Bischof Mynheer, hat ihn offen<lb/>
angeklagt, seine Weltansicht vernichte alle Poesie und alle Religion. &#x2014; Oersted<lb/>
sucht das Gegeutheil nachzuweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1644"> Unbedingt wird der Beweis nicht zu führen sein. Es gibt Zeiten, wo das<lb/>
Ueberwiegen der Naturwissenschaft der Ausübung der Kunst nachtheilig wird, so¬<lb/>
wohl ihrer Methode als ihres Inhalts wegen. Ein Ueberwiegen der analytischen<lb/>
Richtung drängt die Synthese (jede Poesie ist Synthese) in den Hintergrund, und<lb/>
die Aufmerksamkeit auf die &#x201E;exacten" Verhältnisse der Natur verkümmert den<lb/>
Spielraum der Empfindungen. &#x2014; Andererseits wird die Naturwissenschaft durch<lb/>
die Aufklärung, die sie verbreitet, die Freiheit und den Muth des Geistes, die<lb/>
erste Grundlage aller schöpferischen Thätigkeit fördern, durch den Reichthum ihres<lb/>
Inhalts der Phantasie neue Stoffe zuführen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1645"> Aber die Hauptsache hat Oersted nicht gesagt. Die Wissenschaft hat keinen<lb/>
Willen. Was sie erkennt, muß sie erkennen. Sie kann die Erkenntniß der<lb/>
Wahrheit nicht vermeiden, und wenn man ihr auch nachweise» könnte, daß die<lb/>
Welt darüber zu Grunde ginge. Sie muß es sagen, daß 2x2---4, daß das<lb/>
Naturgesetz ewig und unwandelbar, daß also Wunder identisch ist mit Sinnlosig¬<lb/>
keit&#x2014; sie muß es sage», und wenn alle Poesie und Religion dadurch getödtet würde.<lb/>
5me,jusMa et pereat umncws! im Reich der Wissenschaft ist dieser Satz un¬<lb/>
umstößlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1646"> Aber allerdings ist jene Anklage ebenso kindisch als abscheulich. Wir lassen<lb/>
unsere dänischen Pastoren bei Seite, weil wir unsere eigene Sache zu vertreten,<lb/>
pro arg, et locis zu kämpfen haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1647" next="#ID_1648"> Uns, der jüngern deutschen Philosophie, macht die Reaction den Vorwurf,<lb/>
der Humanismus oder die Aufklärung hebe die eigentliche Grundlage aller Poesie<lb/>
auf &#x2014; den Geist der Anbetung, der Liebe, der Verehrung. Es wird uns das<lb/>
namentlich von den neufranzösischen Jesuiten in unermüdlichen Variationen wieder<lb/>
aufgetischt. Noch in einer der letzten Nummern der Revue de deux mondes kam</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] sich das Prädicat der Göttlichkeit bei Christus gründete, aus seinem Leben wcg- demonstrirt hat. Jene Frage läßt sich wissenschaftlich nicht lösen; der Einzelne muß sie mit seinem Gewissen in'S Reine bringen. Die Wissenschaft hat andere Dinge zu thun, als sich in den innern Conflict eines unreifen Gewissens zu mischen. Aber soll die Wissenschaft nicht wenigstens vermeiden, dem Gewissen wie dem Glauben ein Aergerniß zu geben? Ist es recht von ihr, Illusionen zu zerstören, die viele schwache Gemüther glücklich machen? — Diese zu allen Zeiten vou halben Naturen aufgeregte Frage hat Oersted, dessen Buch über den „Geist in der Natur" wir vor kurzem besprochen haben, zu seiner neuesten Schrift Veranlassung gegeben. Die dänischen Pastoren haben sich darüber scandalisirt, daß der ,,Geist" nicht ein Reich für sich haben, daß er nirgend anders zu finden sein solle, als in der Natur; der eine derselben, Bischof Mynheer, hat ihn offen angeklagt, seine Weltansicht vernichte alle Poesie und alle Religion. — Oersted sucht das Gegeutheil nachzuweisen. Unbedingt wird der Beweis nicht zu führen sein. Es gibt Zeiten, wo das Ueberwiegen der Naturwissenschaft der Ausübung der Kunst nachtheilig wird, so¬ wohl ihrer Methode als ihres Inhalts wegen. Ein Ueberwiegen der analytischen Richtung drängt die Synthese (jede Poesie ist Synthese) in den Hintergrund, und die Aufmerksamkeit auf die „exacten" Verhältnisse der Natur verkümmert den Spielraum der Empfindungen. — Andererseits wird die Naturwissenschaft durch die Aufklärung, die sie verbreitet, die Freiheit und den Muth des Geistes, die erste Grundlage aller schöpferischen Thätigkeit fördern, durch den Reichthum ihres Inhalts der Phantasie neue Stoffe zuführen. Aber die Hauptsache hat Oersted nicht gesagt. Die Wissenschaft hat keinen Willen. Was sie erkennt, muß sie erkennen. Sie kann die Erkenntniß der Wahrheit nicht vermeiden, und wenn man ihr auch nachweise» könnte, daß die Welt darüber zu Grunde ginge. Sie muß es sagen, daß 2x2---4, daß das Naturgesetz ewig und unwandelbar, daß also Wunder identisch ist mit Sinnlosig¬ keit— sie muß es sage», und wenn alle Poesie und Religion dadurch getödtet würde. 5me,jusMa et pereat umncws! im Reich der Wissenschaft ist dieser Satz un¬ umstößlich. Aber allerdings ist jene Anklage ebenso kindisch als abscheulich. Wir lassen unsere dänischen Pastoren bei Seite, weil wir unsere eigene Sache zu vertreten, pro arg, et locis zu kämpfen haben. Uns, der jüngern deutschen Philosophie, macht die Reaction den Vorwurf, der Humanismus oder die Aufklärung hebe die eigentliche Grundlage aller Poesie auf — den Geist der Anbetung, der Liebe, der Verehrung. Es wird uns das namentlich von den neufranzösischen Jesuiten in unermüdlichen Variationen wieder aufgetischt. Noch in einer der letzten Nummern der Revue de deux mondes kam

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/477>, abgerufen am 27.07.2024.