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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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die Rationalisten, dadurch zu einer ähnlichen, wenn auch entgegengesetzten Thätig-
keit angeregt. Schon mehrfach hat man sich die Frage vorgelegt: soll denn der
große Einfluß ans das Volk, den die Stellung eines Geistlichen gibt, ohne
Sträuben der Partei der Rechtgläubigen und "Frommen" überlassen bleiben?
Und wie hat der Gebildete, der diesen Einfluß uicht aufgeben will, sich mit seinem
Gewissen in's Reine zu setzen, wenn er als Priester einer Lehre auftritt, die er
in ihren wesentlichen Sätzen nicht mehr anerkennt?

Die Beantwortung dieser Frage hat sich "das Buch Jesu" zur Aufgabe
gesetzt. Es hat sich bemüht, die letzten Resultate aus den beiden großen Werken
von David Strauß und der ergänzenden Kritik der Tübinger Schule in einer
populären, übersichtlichen Zusammenstellung gleichsam zu einem dogmatischen Hand¬
buch für diejenigen zu bearbeiten, die sich Christen nennen wollen, ohne an die
übernatürliche Voraussetzung der Religion zu glauben. -- Ein solcher Versuch
muß scheitern. Das "Leben Jesu" und die "Dogmatik" von Strauß siud we¬
sentlich kritischen Inhalts; sie haben mit Geist und Gelehrsamkeit den Zersetzungs-
proceß geschildert, den die theologische, historische und philosophische Kritik der
neuern Zeit an der angeblich geschichtlichen Grundlage wie an den Glaubenssätzen
unserer Religion ausgeübt hat; sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß die
mythische und parabolische Seite der Evangelien das Wichtigste an ihnen ist. --
Wenn man aber diese Mythen und Parabeln zu einer neuen Dogmatik abrunden
will, so übersieht man dabei, daß der Werth von Symbolen aufhört, sobald man
weiß, daß es nur Symbole sind. Wenn der Verfasser im ersten Theil seines
Werks Alles, was uns in der Geschichte Jesu interessirt, in Mythen auflöst, dann
im zweiten Theil das Uebrigbleibende als historischen Fond zusammenstellt, wobei
sich die Dürftigkeit und selbst noch die Unsicherheit dieses Nestes nicht leugnen
läßt; wenn er dann ans einzelnen Lehren, Gleichnissen, Traditionen des Evan¬
geliums eine Art Moralsystem zusammenstellt, das er in jedem popnlärphilosophi--
schen Compendium besser findet, und schließlich auf die Unterscheidung zwischen
dem historischen Jesus und dem symbolischen, idealen Christus den Accent seiner
neuen Religion legt -- so wird er damit weder das populäre Bewußtsein noch
die philosophische Bildung befriedigen, denn das erstere nennt mit Recht Symbole
und Mythen, die sich sür Wahrheit ausgeben, Lügen; die Philosophie aber lehrt
uns, daß aus Zusammenstellung vou Sprüchen keine Moral hervorgeht, daß durch
Auslassung suprauaturalistischer Züge ans Mythen keine Geschichte zu Stande
kommt. Eben so gut konnte man Leben und Thaten des großen Herkules be¬
schreiben. Und vor allen Dingen wird das gesunde Rechtsgefühl beleidigt, wenn
die entgegengesetzte Behauptung: Christus ist ein Gott, und Christus ist kein
Gott, durch die sophistische Vermittlung abgefertigt wird: Christus ist ein gött¬
licher Mensch, ungefähr wie man sagt, göttliche Rachel, göttliche Fanny Elster,
göttlicher Paganini. Noch dazu, nachdem man alle einzelnen Attribute, auf die


die Rationalisten, dadurch zu einer ähnlichen, wenn auch entgegengesetzten Thätig-
keit angeregt. Schon mehrfach hat man sich die Frage vorgelegt: soll denn der
große Einfluß ans das Volk, den die Stellung eines Geistlichen gibt, ohne
Sträuben der Partei der Rechtgläubigen und „Frommen" überlassen bleiben?
Und wie hat der Gebildete, der diesen Einfluß uicht aufgeben will, sich mit seinem
Gewissen in's Reine zu setzen, wenn er als Priester einer Lehre auftritt, die er
in ihren wesentlichen Sätzen nicht mehr anerkennt?

Die Beantwortung dieser Frage hat sich „das Buch Jesu" zur Aufgabe
gesetzt. Es hat sich bemüht, die letzten Resultate aus den beiden großen Werken
von David Strauß und der ergänzenden Kritik der Tübinger Schule in einer
populären, übersichtlichen Zusammenstellung gleichsam zu einem dogmatischen Hand¬
buch für diejenigen zu bearbeiten, die sich Christen nennen wollen, ohne an die
übernatürliche Voraussetzung der Religion zu glauben. — Ein solcher Versuch
muß scheitern. Das „Leben Jesu" und die „Dogmatik" von Strauß siud we¬
sentlich kritischen Inhalts; sie haben mit Geist und Gelehrsamkeit den Zersetzungs-
proceß geschildert, den die theologische, historische und philosophische Kritik der
neuern Zeit an der angeblich geschichtlichen Grundlage wie an den Glaubenssätzen
unserer Religion ausgeübt hat; sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß die
mythische und parabolische Seite der Evangelien das Wichtigste an ihnen ist. —
Wenn man aber diese Mythen und Parabeln zu einer neuen Dogmatik abrunden
will, so übersieht man dabei, daß der Werth von Symbolen aufhört, sobald man
weiß, daß es nur Symbole sind. Wenn der Verfasser im ersten Theil seines
Werks Alles, was uns in der Geschichte Jesu interessirt, in Mythen auflöst, dann
im zweiten Theil das Uebrigbleibende als historischen Fond zusammenstellt, wobei
sich die Dürftigkeit und selbst noch die Unsicherheit dieses Nestes nicht leugnen
läßt; wenn er dann ans einzelnen Lehren, Gleichnissen, Traditionen des Evan¬
geliums eine Art Moralsystem zusammenstellt, das er in jedem popnlärphilosophi--
schen Compendium besser findet, und schließlich auf die Unterscheidung zwischen
dem historischen Jesus und dem symbolischen, idealen Christus den Accent seiner
neuen Religion legt — so wird er damit weder das populäre Bewußtsein noch
die philosophische Bildung befriedigen, denn das erstere nennt mit Recht Symbole
und Mythen, die sich sür Wahrheit ausgeben, Lügen; die Philosophie aber lehrt
uns, daß aus Zusammenstellung vou Sprüchen keine Moral hervorgeht, daß durch
Auslassung suprauaturalistischer Züge ans Mythen keine Geschichte zu Stande
kommt. Eben so gut konnte man Leben und Thaten des großen Herkules be¬
schreiben. Und vor allen Dingen wird das gesunde Rechtsgefühl beleidigt, wenn
die entgegengesetzte Behauptung: Christus ist ein Gott, und Christus ist kein
Gott, durch die sophistische Vermittlung abgefertigt wird: Christus ist ein gött¬
licher Mensch, ungefähr wie man sagt, göttliche Rachel, göttliche Fanny Elster,
göttlicher Paganini. Noch dazu, nachdem man alle einzelnen Attribute, auf die


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[0476] die Rationalisten, dadurch zu einer ähnlichen, wenn auch entgegengesetzten Thätig- keit angeregt. Schon mehrfach hat man sich die Frage vorgelegt: soll denn der große Einfluß ans das Volk, den die Stellung eines Geistlichen gibt, ohne Sträuben der Partei der Rechtgläubigen und „Frommen" überlassen bleiben? Und wie hat der Gebildete, der diesen Einfluß uicht aufgeben will, sich mit seinem Gewissen in's Reine zu setzen, wenn er als Priester einer Lehre auftritt, die er in ihren wesentlichen Sätzen nicht mehr anerkennt? Die Beantwortung dieser Frage hat sich „das Buch Jesu" zur Aufgabe gesetzt. Es hat sich bemüht, die letzten Resultate aus den beiden großen Werken von David Strauß und der ergänzenden Kritik der Tübinger Schule in einer populären, übersichtlichen Zusammenstellung gleichsam zu einem dogmatischen Hand¬ buch für diejenigen zu bearbeiten, die sich Christen nennen wollen, ohne an die übernatürliche Voraussetzung der Religion zu glauben. — Ein solcher Versuch muß scheitern. Das „Leben Jesu" und die „Dogmatik" von Strauß siud we¬ sentlich kritischen Inhalts; sie haben mit Geist und Gelehrsamkeit den Zersetzungs- proceß geschildert, den die theologische, historische und philosophische Kritik der neuern Zeit an der angeblich geschichtlichen Grundlage wie an den Glaubenssätzen unserer Religion ausgeübt hat; sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß die mythische und parabolische Seite der Evangelien das Wichtigste an ihnen ist. — Wenn man aber diese Mythen und Parabeln zu einer neuen Dogmatik abrunden will, so übersieht man dabei, daß der Werth von Symbolen aufhört, sobald man weiß, daß es nur Symbole sind. Wenn der Verfasser im ersten Theil seines Werks Alles, was uns in der Geschichte Jesu interessirt, in Mythen auflöst, dann im zweiten Theil das Uebrigbleibende als historischen Fond zusammenstellt, wobei sich die Dürftigkeit und selbst noch die Unsicherheit dieses Nestes nicht leugnen läßt; wenn er dann ans einzelnen Lehren, Gleichnissen, Traditionen des Evan¬ geliums eine Art Moralsystem zusammenstellt, das er in jedem popnlärphilosophi-- schen Compendium besser findet, und schließlich auf die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem symbolischen, idealen Christus den Accent seiner neuen Religion legt — so wird er damit weder das populäre Bewußtsein noch die philosophische Bildung befriedigen, denn das erstere nennt mit Recht Symbole und Mythen, die sich sür Wahrheit ausgeben, Lügen; die Philosophie aber lehrt uns, daß aus Zusammenstellung vou Sprüchen keine Moral hervorgeht, daß durch Auslassung suprauaturalistischer Züge ans Mythen keine Geschichte zu Stande kommt. Eben so gut konnte man Leben und Thaten des großen Herkules be¬ schreiben. Und vor allen Dingen wird das gesunde Rechtsgefühl beleidigt, wenn die entgegengesetzte Behauptung: Christus ist ein Gott, und Christus ist kein Gott, durch die sophistische Vermittlung abgefertigt wird: Christus ist ein gött¬ licher Mensch, ungefähr wie man sagt, göttliche Rachel, göttliche Fanny Elster, göttlicher Paganini. Noch dazu, nachdem man alle einzelnen Attribute, auf die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/476>, abgerufen am 01.09.2024.