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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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neuere Zeit auszudehnen, wo die Milderung der Strafe", die Besserung der
Gefängnisse u. f. w. gerade von der unkirchlichen Philosophie angestrebt, von der
kirchlichen Gesinnung nicht selten als eine Nachgiebigkeit gegen die Sünde auge
fochten wird.

Indeß wie dem auch sei, der Kirche bleibt immer die Ehre, an dem Werke
der Humanität wenigstens Theil zu nehmen, wenn sie auch uicht mehr deren.ein¬
ziger Träger ist. Wir wollen auch uicht viel Gewicht darauf legen, daß sie in
ihrer Auswahl mitunter andere Rücksichten, als die der Humanität zu Grunde
legt, daß sie den Eindruck ihrer Gaben mitunter durch zudringliche Einmischung
in Herzensangelegenheiten verkümmert. Aber das Schlimme bei dieser innern
Misston ist, daß sie die Ausnahme zur Regel machen, daß sie, um das particu-
laire Leiden zu heben, die ganze Welt in ein Spital verwandeln möchte.

Das Almosenempfangen ist immer eine Degradation der menschlichen Würde,
und wird auch vom Staat mit Recht als solche betrachtet; die Armuth ist nicht,
wie der Diakouuö Merz es uus einreden möchte, der normale Zustand des Men¬
schen. Ein dauernder Gegenstand des Mitleids zu sein, ist uur für Sclaveusee-
len erträglich, und für ein wahrhaft edles, freigebornes Gemüth wird selbst die
Erzeignng des Mitleids etwas Peinliches haben. Am meisten ist das bei den
Frauen der Fall, deren Leben die Apostel der innen Misston eine ganz neue Be¬
stimmung anzuweisen meinen. Es liegt auch darin ein Mißverständnis). Wohl
ist es der schöne Beruf des Weibes, zunächst im Kreise ihrer Familie, und was
mit demselben zusammenhängt, wo es fehlt, helfend, fördernd, versöhnend einzu¬
greifen; aber in den Hospitälern und Gefängnissen herumzulaufen, in Missions¬
gesellschaften den Anschein parlamentarischer Thätigkeit zu usnrpiren, der ihrem Ge¬
schlecht versagt ist, muß wenigstens für ebenso unweiblich gelten, als das so heftig
angefochtene Pariser Saloulebeu. Denn die beständige Beschäftigung mit dem
Elend verhärtet das Herz und stumpft es ab. Gott behüte jeden Christenmenschen
vor einer Frau, die Tractätcheu vertheilt, und die Aufsicht in einem Spital führt!

Die "innere Mission" hat sich durch deu Socialismus verführen lasse", das
Gift, welches in schweren Krankheitsfällen als Medicament an seinem Platz ist,
zur täglichen Speise der Menschheit machen zu wollen. Spitäler und humanisirte
Zuchthäuser sind nnr als Ausnahmezustand erträglich. Zudem ist die "Barmher¬
zigkeit" in ihren Wirkungen höchst eingeschränkt. Die Erstnduug eines neuen
Jndustriezweiges, der Tausenden Brod, Arbeit und Selbstständigkeit gibt, die
Gründung eines neuen Handelsweges sind tausendmal einflußreicher auf das
Glück, die Cultur und die Veredlung der Menschen, als zwanzig "rauhe Häuser,"
so löblich die Absicht ihrer Gründer, so segensreich im Einzelnen ihre Wirksamkeit
sein mag. --

Wenn die modernen Pietisten den Angriff gegen die Ungläubigkeit mit einem
Kampf gegen die Sünde und das Elend verbinden, so sehen sich ihre Gegner,


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neuere Zeit auszudehnen, wo die Milderung der Strafe», die Besserung der
Gefängnisse u. f. w. gerade von der unkirchlichen Philosophie angestrebt, von der
kirchlichen Gesinnung nicht selten als eine Nachgiebigkeit gegen die Sünde auge
fochten wird.

Indeß wie dem auch sei, der Kirche bleibt immer die Ehre, an dem Werke
der Humanität wenigstens Theil zu nehmen, wenn sie auch uicht mehr deren.ein¬
ziger Träger ist. Wir wollen auch uicht viel Gewicht darauf legen, daß sie in
ihrer Auswahl mitunter andere Rücksichten, als die der Humanität zu Grunde
legt, daß sie den Eindruck ihrer Gaben mitunter durch zudringliche Einmischung
in Herzensangelegenheiten verkümmert. Aber das Schlimme bei dieser innern
Misston ist, daß sie die Ausnahme zur Regel machen, daß sie, um das particu-
laire Leiden zu heben, die ganze Welt in ein Spital verwandeln möchte.

Das Almosenempfangen ist immer eine Degradation der menschlichen Würde,
und wird auch vom Staat mit Recht als solche betrachtet; die Armuth ist nicht,
wie der Diakouuö Merz es uus einreden möchte, der normale Zustand des Men¬
schen. Ein dauernder Gegenstand des Mitleids zu sein, ist uur für Sclaveusee-
len erträglich, und für ein wahrhaft edles, freigebornes Gemüth wird selbst die
Erzeignng des Mitleids etwas Peinliches haben. Am meisten ist das bei den
Frauen der Fall, deren Leben die Apostel der innen Misston eine ganz neue Be¬
stimmung anzuweisen meinen. Es liegt auch darin ein Mißverständnis). Wohl
ist es der schöne Beruf des Weibes, zunächst im Kreise ihrer Familie, und was
mit demselben zusammenhängt, wo es fehlt, helfend, fördernd, versöhnend einzu¬
greifen; aber in den Hospitälern und Gefängnissen herumzulaufen, in Missions¬
gesellschaften den Anschein parlamentarischer Thätigkeit zu usnrpiren, der ihrem Ge¬
schlecht versagt ist, muß wenigstens für ebenso unweiblich gelten, als das so heftig
angefochtene Pariser Saloulebeu. Denn die beständige Beschäftigung mit dem
Elend verhärtet das Herz und stumpft es ab. Gott behüte jeden Christenmenschen
vor einer Frau, die Tractätcheu vertheilt, und die Aufsicht in einem Spital führt!

Die „innere Mission" hat sich durch deu Socialismus verführen lasse», das
Gift, welches in schweren Krankheitsfällen als Medicament an seinem Platz ist,
zur täglichen Speise der Menschheit machen zu wollen. Spitäler und humanisirte
Zuchthäuser sind nnr als Ausnahmezustand erträglich. Zudem ist die „Barmher¬
zigkeit" in ihren Wirkungen höchst eingeschränkt. Die Erstnduug eines neuen
Jndustriezweiges, der Tausenden Brod, Arbeit und Selbstständigkeit gibt, die
Gründung eines neuen Handelsweges sind tausendmal einflußreicher auf das
Glück, die Cultur und die Veredlung der Menschen, als zwanzig „rauhe Häuser,"
so löblich die Absicht ihrer Gründer, so segensreich im Einzelnen ihre Wirksamkeit
sein mag. —

Wenn die modernen Pietisten den Angriff gegen die Ungläubigkeit mit einem
Kampf gegen die Sünde und das Elend verbinden, so sehen sich ihre Gegner,


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[0475] neuere Zeit auszudehnen, wo die Milderung der Strafe», die Besserung der Gefängnisse u. f. w. gerade von der unkirchlichen Philosophie angestrebt, von der kirchlichen Gesinnung nicht selten als eine Nachgiebigkeit gegen die Sünde auge fochten wird. Indeß wie dem auch sei, der Kirche bleibt immer die Ehre, an dem Werke der Humanität wenigstens Theil zu nehmen, wenn sie auch uicht mehr deren.ein¬ ziger Träger ist. Wir wollen auch uicht viel Gewicht darauf legen, daß sie in ihrer Auswahl mitunter andere Rücksichten, als die der Humanität zu Grunde legt, daß sie den Eindruck ihrer Gaben mitunter durch zudringliche Einmischung in Herzensangelegenheiten verkümmert. Aber das Schlimme bei dieser innern Misston ist, daß sie die Ausnahme zur Regel machen, daß sie, um das particu- laire Leiden zu heben, die ganze Welt in ein Spital verwandeln möchte. Das Almosenempfangen ist immer eine Degradation der menschlichen Würde, und wird auch vom Staat mit Recht als solche betrachtet; die Armuth ist nicht, wie der Diakouuö Merz es uus einreden möchte, der normale Zustand des Men¬ schen. Ein dauernder Gegenstand des Mitleids zu sein, ist uur für Sclaveusee- len erträglich, und für ein wahrhaft edles, freigebornes Gemüth wird selbst die Erzeignng des Mitleids etwas Peinliches haben. Am meisten ist das bei den Frauen der Fall, deren Leben die Apostel der innen Misston eine ganz neue Be¬ stimmung anzuweisen meinen. Es liegt auch darin ein Mißverständnis). Wohl ist es der schöne Beruf des Weibes, zunächst im Kreise ihrer Familie, und was mit demselben zusammenhängt, wo es fehlt, helfend, fördernd, versöhnend einzu¬ greifen; aber in den Hospitälern und Gefängnissen herumzulaufen, in Missions¬ gesellschaften den Anschein parlamentarischer Thätigkeit zu usnrpiren, der ihrem Ge¬ schlecht versagt ist, muß wenigstens für ebenso unweiblich gelten, als das so heftig angefochtene Pariser Saloulebeu. Denn die beständige Beschäftigung mit dem Elend verhärtet das Herz und stumpft es ab. Gott behüte jeden Christenmenschen vor einer Frau, die Tractätcheu vertheilt, und die Aufsicht in einem Spital führt! Die „innere Mission" hat sich durch deu Socialismus verführen lasse», das Gift, welches in schweren Krankheitsfällen als Medicament an seinem Platz ist, zur täglichen Speise der Menschheit machen zu wollen. Spitäler und humanisirte Zuchthäuser sind nnr als Ausnahmezustand erträglich. Zudem ist die „Barmher¬ zigkeit" in ihren Wirkungen höchst eingeschränkt. Die Erstnduug eines neuen Jndustriezweiges, der Tausenden Brod, Arbeit und Selbstständigkeit gibt, die Gründung eines neuen Handelsweges sind tausendmal einflußreicher auf das Glück, die Cultur und die Veredlung der Menschen, als zwanzig „rauhe Häuser," so löblich die Absicht ihrer Gründer, so segensreich im Einzelnen ihre Wirksamkeit sein mag. — Wenn die modernen Pietisten den Angriff gegen die Ungläubigkeit mit einem Kampf gegen die Sünde und das Elend verbinden, so sehen sich ihre Gegner, 59*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/475>, abgerufen am 01.09.2024.