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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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die andere Idee, sie geben die praktischen Ergebnisse ihrer Lehren in einzelnen
Sätzen. Jene Idee und diese Sätze entzweien den Leibeignen immer tiefer mit
der Thatsächlichkeit seiner Zustände. Die Revolution des Gedankens macht immer
weitere Eroberungen, die aufrührerische That ist seine Folge; der Erfolg dieser
freilich immer neue Fesselung, meistens selbst die Entziehung der vorher gesetzlich
garantirten Rechte. So verwirren sich die Begriffe von Recht und Unrecht, von
Religion und Irrlehre zu einem Knäuel, dessen Entwirrung dem schlagfertigen Na¬
turell des Russen zufolge und bei seinem Niedern Culturstande nothwendig nur
durch ein blutiges Zerhauen der Knoten des Nctzgeflechtes erstrebt wird. Wie
aber vornämlich die innere Zerrüttung der Kirche und ihrer Seelen social-religiöse
Wühlereien -- das Wort ist ja jetzt beliebt für jede nichtgvuvernementale Be¬
wegung in den Massen -- solche Versuche begünstigen, scheint dadurch bewiesen,
daß die neuern Bauernrevoltcn vorzugsweise in jene Lande der Monarchie satten,
wo die Scctircrei ihre weiteste Ausbreitung erlangt hat. Man könnte also, wenn
es um Paradoxen zu thun wäre, der russischen Behauptung: "die Revolution ist
vor Allem antichristlich" antworten: "die russische Revolution ist vor Allem christlich."

Dies Paradoxon wäre indessen, wie alle derartigen Aufstellungen, uur eine
halbe und mittelbare Wahrheit. Die russische Revolution ist vielmehr vor Allem
socialer Natur. Es erhebt sich also die natürliche Frage: finden nicht anch, wie
in den westlichen Provinzen, so im Innern des Reiches alle derartigen Bewegungen
ihre natürlichen Gegner im Adel, wie in den "excmten Classen"? Die jetzigen,
eben nur von den Massen ausgehenden Thatsachen gewiß; denn diese sind eben
dem Adel, sind der politischen Exemtion selbst feindlicher, als der Vorenthaltung
politischer Rechte durch den Staat. Gerade diese Vorenthaltung politischer Rechte
drängt aber auch den Adel in die Reihen der Opposition; ja, sie ist ihm gegen¬
über noch mehr, sie ist directe Beraubung. Um den Grundsatz der Alleinmacht
des Czaren durchzuführen, strebte zunächst des gouvernementale System dahin,
dem Erbadel jede staatliche Anerkennung zu versagen. Dieselben Bojaren vom
goldnen Pfeiler und vom sammtnen Buch, welche einstmals den jungeu Michael
Romanow ans den Czareuthrou hoben und sich dafür das Recht der ständischen
Genehmigung seiner Ncgierungöhandliingcn vorbehielten, verloren dieses Recht
bereits unter seinen nächsten Nachfolgern; unter seinem Urenkel sogar die Sicher¬
heit der angeborenen privatrechtlichen Vorzüge ihres Standes, nachdem diese
bereits auf das Aeußerste beschränkt worden waren. In der vierten Generation
erlischt der Adelstitel mit der Abgaben- und Militärfrciheit, wenn nicht bis dahin
ein Familienglied durch Staatsdienst die Erblichkeit des Adels von Neuem errang.
Jeder Adelige, welcher, nicht im Staatsdienste stand, bleibt sogar in gewisser
Art minorenn sein Leben lang. Dies macht dem gnmdbesitzcndcn Adel, der
eigentlichen Erbaristvkratie unmöglich, alle ihre Lebenskräfte auf die Pflege des
Gruudbesttzes zu verwenden. Jahre, die jeder Einzelne dem Staate zu opfern


die andere Idee, sie geben die praktischen Ergebnisse ihrer Lehren in einzelnen
Sätzen. Jene Idee und diese Sätze entzweien den Leibeignen immer tiefer mit
der Thatsächlichkeit seiner Zustände. Die Revolution des Gedankens macht immer
weitere Eroberungen, die aufrührerische That ist seine Folge; der Erfolg dieser
freilich immer neue Fesselung, meistens selbst die Entziehung der vorher gesetzlich
garantirten Rechte. So verwirren sich die Begriffe von Recht und Unrecht, von
Religion und Irrlehre zu einem Knäuel, dessen Entwirrung dem schlagfertigen Na¬
turell des Russen zufolge und bei seinem Niedern Culturstande nothwendig nur
durch ein blutiges Zerhauen der Knoten des Nctzgeflechtes erstrebt wird. Wie
aber vornämlich die innere Zerrüttung der Kirche und ihrer Seelen social-religiöse
Wühlereien — das Wort ist ja jetzt beliebt für jede nichtgvuvernementale Be¬
wegung in den Massen — solche Versuche begünstigen, scheint dadurch bewiesen,
daß die neuern Bauernrevoltcn vorzugsweise in jene Lande der Monarchie satten,
wo die Scctircrei ihre weiteste Ausbreitung erlangt hat. Man könnte also, wenn
es um Paradoxen zu thun wäre, der russischen Behauptung: „die Revolution ist
vor Allem antichristlich" antworten: „die russische Revolution ist vor Allem christlich."

Dies Paradoxon wäre indessen, wie alle derartigen Aufstellungen, uur eine
halbe und mittelbare Wahrheit. Die russische Revolution ist vielmehr vor Allem
socialer Natur. Es erhebt sich also die natürliche Frage: finden nicht anch, wie
in den westlichen Provinzen, so im Innern des Reiches alle derartigen Bewegungen
ihre natürlichen Gegner im Adel, wie in den „excmten Classen"? Die jetzigen,
eben nur von den Massen ausgehenden Thatsachen gewiß; denn diese sind eben
dem Adel, sind der politischen Exemtion selbst feindlicher, als der Vorenthaltung
politischer Rechte durch den Staat. Gerade diese Vorenthaltung politischer Rechte
drängt aber auch den Adel in die Reihen der Opposition; ja, sie ist ihm gegen¬
über noch mehr, sie ist directe Beraubung. Um den Grundsatz der Alleinmacht
des Czaren durchzuführen, strebte zunächst des gouvernementale System dahin,
dem Erbadel jede staatliche Anerkennung zu versagen. Dieselben Bojaren vom
goldnen Pfeiler und vom sammtnen Buch, welche einstmals den jungeu Michael
Romanow ans den Czareuthrou hoben und sich dafür das Recht der ständischen
Genehmigung seiner Ncgierungöhandliingcn vorbehielten, verloren dieses Recht
bereits unter seinen nächsten Nachfolgern; unter seinem Urenkel sogar die Sicher¬
heit der angeborenen privatrechtlichen Vorzüge ihres Standes, nachdem diese
bereits auf das Aeußerste beschränkt worden waren. In der vierten Generation
erlischt der Adelstitel mit der Abgaben- und Militärfrciheit, wenn nicht bis dahin
ein Familienglied durch Staatsdienst die Erblichkeit des Adels von Neuem errang.
Jeder Adelige, welcher, nicht im Staatsdienste stand, bleibt sogar in gewisser
Art minorenn sein Leben lang. Dies macht dem gnmdbesitzcndcn Adel, der
eigentlichen Erbaristvkratie unmöglich, alle ihre Lebenskräfte auf die Pflege des
Gruudbesttzes zu verwenden. Jahre, die jeder Einzelne dem Staate zu opfern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/293>, abgerufen am 01.09.2024.