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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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schreitenden europäischen Bildung in den Kern seines Reiches überträgt, sonach
ein Mißverhältnis), einen Mangel an Gleichgewicht zwischen den verschiedenen
Entwicklnugsrichtuugen hervorruft. Nach logischen Naturgesetzen sucht sich dieses
Mißverhältnis) irgendwie auszugleichen. Der Schwerpunkt der Entwicklungen
verlegt sich beinahe naturnothwendig auf das sociale Feld. Der Staat selbst hat
dies befördert. Um die politische Macht des nationalen Adels, welche von Peter
und seinen Nachfolgern nur niedergeworfen war, auch innerlich zu brechen, hat
der Staat in socialer Beziehung uuter den Massen Hoffnungen erregt und Ver¬
heißungen verkündet, welche er nun, durch seine eigne Politik gehindert, nur in
einem Maße erfüllt, dessen Ergebniß nothwcndig die Unzufriedenheit mit dem
Bestehenden durch alle Classen verbreiten mußte. Die leibeignen Classen wurden
sich durch die Viertelsemancipation erst genau über den Entgang aller menschlichen
Rechte in der Leibeigenschaft bewußt, der Adel aber erlitt dabei Einbußen an
Macht und Selbständigkeit, an materieller Kraft und Selbstgeltuug, kurz an alleu
politischen und socialen Vorrechte", ohne daß auch nur eine seiner politischen
und socialen, materiellen oder moralischen Verpflichtungen verringert worden wäre.
Die LeibeigenschastSfrage als solche ist dem Russen der nieder" und ärmern Classen
im Allgemeinen noch keineswegs eine drückende Lebensfrage, wenngleich natürlich
alle jene Leibeignen, welche sich zu materiell bessern Lebensstellungen aufschlüge",
von den Fesseln der Eigenhörigkeitsverhältnisse wund gerieben werde" bis aus
das innerste Lebensmark. Gerade diese Schichten der Leibeignen betrifft aber
jenes Gesetz zunächst, wonach ihnen der erbliche Erwerb liegender und fahren¬
der Habe gestattet ist, ohne daß sie doch von der Leibeigenschaft befreit werden.
Die ärmern Classen der Leibeignen werden dagegen durch die Ungleichartigkeit der
Zustände unter ihresgleichen verbittert, ehe" weil sie, wie el" größter Theil
unserer Bauern, uicht uach deu Uebelständen ihres Standes im Allgemeinen und
Ganzen, sonder" "ur nach den localen Verschiedenheiten fragen. Sie sehen neben
sich die freier gestellten Krviibauern, die Freibauern, die durch den Militärdienst
Freigewordenen, endlich noch die Unterschiede zwischen de" Lebensverhältnissen
der Eigenhörige" großer und kleiner Grundbesitzer. Sie haben ferner das Recht
erhalten, gegen Willkürlichkeiten ihrer Lcibherre" den Schutz des Rechtes anzu¬
rufen; aber die Richter solcher Streitfragen sind wiederum Mitglieder des Adels
und -- russische Beamte. Das scheinbare Recht ist eine Illusion, seine Uebung
bereitet im speciellen Falle dem Leibeignen nur ärgere Bedrückungen, gegen die er
kein Recht anzurufen vermag. Die russische Resignation ist nun allerdings ein
großer Verlaß, aber auch sie geht nur bis zu einem bestimmten Punkt; die Lehrer
der orthodoxen Kirche predigen sie noch über diesen Pu"le Humus. U"ter solche"
Verhältmsse" wirke" u"n die Lehren der Sectirer. Sie fordern kein äußerliches
Bekenntniß, kein offenes, von Strafe bedrohtes Abfalle" vo" der orthodoxe"
Kirche, sie fordern auch kein Grübeln über Dogmen; sie entzünden nur eine oder


schreitenden europäischen Bildung in den Kern seines Reiches überträgt, sonach
ein Mißverhältnis), einen Mangel an Gleichgewicht zwischen den verschiedenen
Entwicklnugsrichtuugen hervorruft. Nach logischen Naturgesetzen sucht sich dieses
Mißverhältnis) irgendwie auszugleichen. Der Schwerpunkt der Entwicklungen
verlegt sich beinahe naturnothwendig auf das sociale Feld. Der Staat selbst hat
dies befördert. Um die politische Macht des nationalen Adels, welche von Peter
und seinen Nachfolgern nur niedergeworfen war, auch innerlich zu brechen, hat
der Staat in socialer Beziehung uuter den Massen Hoffnungen erregt und Ver¬
heißungen verkündet, welche er nun, durch seine eigne Politik gehindert, nur in
einem Maße erfüllt, dessen Ergebniß nothwcndig die Unzufriedenheit mit dem
Bestehenden durch alle Classen verbreiten mußte. Die leibeignen Classen wurden
sich durch die Viertelsemancipation erst genau über den Entgang aller menschlichen
Rechte in der Leibeigenschaft bewußt, der Adel aber erlitt dabei Einbußen an
Macht und Selbständigkeit, an materieller Kraft und Selbstgeltuug, kurz an alleu
politischen und socialen Vorrechte», ohne daß auch nur eine seiner politischen
und socialen, materiellen oder moralischen Verpflichtungen verringert worden wäre.
Die LeibeigenschastSfrage als solche ist dem Russen der nieder» und ärmern Classen
im Allgemeinen noch keineswegs eine drückende Lebensfrage, wenngleich natürlich
alle jene Leibeignen, welche sich zu materiell bessern Lebensstellungen aufschlüge»,
von den Fesseln der Eigenhörigkeitsverhältnisse wund gerieben werde» bis aus
das innerste Lebensmark. Gerade diese Schichten der Leibeignen betrifft aber
jenes Gesetz zunächst, wonach ihnen der erbliche Erwerb liegender und fahren¬
der Habe gestattet ist, ohne daß sie doch von der Leibeigenschaft befreit werden.
Die ärmern Classen der Leibeignen werden dagegen durch die Ungleichartigkeit der
Zustände unter ihresgleichen verbittert, ehe» weil sie, wie el» größter Theil
unserer Bauern, uicht uach deu Uebelständen ihres Standes im Allgemeinen und
Ganzen, sonder» »ur nach den localen Verschiedenheiten fragen. Sie sehen neben
sich die freier gestellten Krviibauern, die Freibauern, die durch den Militärdienst
Freigewordenen, endlich noch die Unterschiede zwischen de» Lebensverhältnissen
der Eigenhörige» großer und kleiner Grundbesitzer. Sie haben ferner das Recht
erhalten, gegen Willkürlichkeiten ihrer Lcibherre» den Schutz des Rechtes anzu¬
rufen; aber die Richter solcher Streitfragen sind wiederum Mitglieder des Adels
und — russische Beamte. Das scheinbare Recht ist eine Illusion, seine Uebung
bereitet im speciellen Falle dem Leibeignen nur ärgere Bedrückungen, gegen die er
kein Recht anzurufen vermag. Die russische Resignation ist nun allerdings ein
großer Verlaß, aber auch sie geht nur bis zu einem bestimmten Punkt; die Lehrer
der orthodoxen Kirche predigen sie noch über diesen Pu»le Humus. U»ter solche»
Verhältmsse» wirke» u»n die Lehren der Sectirer. Sie fordern kein äußerliches
Bekenntniß, kein offenes, von Strafe bedrohtes Abfalle» vo» der orthodoxe»
Kirche, sie fordern auch kein Grübeln über Dogmen; sie entzünden nur eine oder


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[0292] schreitenden europäischen Bildung in den Kern seines Reiches überträgt, sonach ein Mißverhältnis), einen Mangel an Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Entwicklnugsrichtuugen hervorruft. Nach logischen Naturgesetzen sucht sich dieses Mißverhältnis) irgendwie auszugleichen. Der Schwerpunkt der Entwicklungen verlegt sich beinahe naturnothwendig auf das sociale Feld. Der Staat selbst hat dies befördert. Um die politische Macht des nationalen Adels, welche von Peter und seinen Nachfolgern nur niedergeworfen war, auch innerlich zu brechen, hat der Staat in socialer Beziehung uuter den Massen Hoffnungen erregt und Ver¬ heißungen verkündet, welche er nun, durch seine eigne Politik gehindert, nur in einem Maße erfüllt, dessen Ergebniß nothwcndig die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden durch alle Classen verbreiten mußte. Die leibeignen Classen wurden sich durch die Viertelsemancipation erst genau über den Entgang aller menschlichen Rechte in der Leibeigenschaft bewußt, der Adel aber erlitt dabei Einbußen an Macht und Selbständigkeit, an materieller Kraft und Selbstgeltuug, kurz an alleu politischen und socialen Vorrechte», ohne daß auch nur eine seiner politischen und socialen, materiellen oder moralischen Verpflichtungen verringert worden wäre. Die LeibeigenschastSfrage als solche ist dem Russen der nieder» und ärmern Classen im Allgemeinen noch keineswegs eine drückende Lebensfrage, wenngleich natürlich alle jene Leibeignen, welche sich zu materiell bessern Lebensstellungen aufschlüge», von den Fesseln der Eigenhörigkeitsverhältnisse wund gerieben werde» bis aus das innerste Lebensmark. Gerade diese Schichten der Leibeignen betrifft aber jenes Gesetz zunächst, wonach ihnen der erbliche Erwerb liegender und fahren¬ der Habe gestattet ist, ohne daß sie doch von der Leibeigenschaft befreit werden. Die ärmern Classen der Leibeignen werden dagegen durch die Ungleichartigkeit der Zustände unter ihresgleichen verbittert, ehe» weil sie, wie el» größter Theil unserer Bauern, uicht uach deu Uebelständen ihres Standes im Allgemeinen und Ganzen, sonder» »ur nach den localen Verschiedenheiten fragen. Sie sehen neben sich die freier gestellten Krviibauern, die Freibauern, die durch den Militärdienst Freigewordenen, endlich noch die Unterschiede zwischen de» Lebensverhältnissen der Eigenhörige» großer und kleiner Grundbesitzer. Sie haben ferner das Recht erhalten, gegen Willkürlichkeiten ihrer Lcibherre» den Schutz des Rechtes anzu¬ rufen; aber die Richter solcher Streitfragen sind wiederum Mitglieder des Adels und — russische Beamte. Das scheinbare Recht ist eine Illusion, seine Uebung bereitet im speciellen Falle dem Leibeignen nur ärgere Bedrückungen, gegen die er kein Recht anzurufen vermag. Die russische Resignation ist nun allerdings ein großer Verlaß, aber auch sie geht nur bis zu einem bestimmten Punkt; die Lehrer der orthodoxen Kirche predigen sie noch über diesen Pu»le Humus. U»ter solche» Verhältmsse» wirke» u»n die Lehren der Sectirer. Sie fordern kein äußerliches Bekenntniß, kein offenes, von Strafe bedrohtes Abfalle» vo» der orthodoxe» Kirche, sie fordern auch kein Grübeln über Dogmen; sie entzünden nur eine oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/292>, abgerufen am 01.09.2024.