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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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wahr, halbwahr oder ganz erdichtet war, ist hier nicht zu untersuchen. Es war
nur um ein beiläufiges Exempel zu thun, und daraus hinzuweisen, für welche
Zwecke mitunter solche Aufstandsgerüchte wohl benutzbar sind, und wie wenig,
wenn sie Wahrheit enthalten haben, der Gang der äußern russischen Politik davon
berührt wird. Jene schauernde Beruhigung angstvoller und ruhebedürftiger Ge¬
müther, welche Europa's und namentlich Deutschlands Angelegenheiten krieglos
zur Feststellung gelangend glauben, falls nnr Rußlands Einmischung fern bleibt,
jene Alltagspvlilik, welche aus jedem AnfstandSgerüchte Hoffnung dafür schöpft,
daß Rußland zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei, um eine kriegerische Einmischung
wagen zu dürfen, ist durch das ungarische Beispiel belehrt, und dürste noch
lange umsonst auf Befriedigung ihrer stillen Wünsche warten. Die vom Volke,
von den Massen ausgehende sociale Bewegung der westlichen Provinzen ist für
Nußland ungefährlich. Sie wird dnrch die bevorrechteten Nassen dieser Lande
selbst bekämpft und hat in ihrem Gefolge nnr deren engere Kettung an das russische
Interesse durch deu gänzlichen Verlust ihres Freiherrlichkcitö - und Starosten-
bewnßtseins. Eine auf die Westproviuzeu isolirte Bewegung sogar im Adel und
den "eremten Classen" kann der russischen Negierung nur Mittel zu immer engerer
Umklammerung in die Hand drücken. Gefährlich wird sie erst Bewegungen er¬
achten, welche sich nach dem Innern des Reichs erstrecken und dort ihre Bündner
suchen. Bei der Nachricht von den Warschauer Verhaftungen im Frühling dieses
und im Sommer vorigen Jahres lasen wir ausdrücklich die Notiz, daß sie vorzugs¬
weise Leute getroffen haben, "welche mit geheimen Gesellschaften in Rußland in
Verbindung gestanden."

Anders in den innern Provinzen des Reichs. Die ganze Politik Rußlands,
seine natürliche, wie die künstlich geschaffene, drängt den Staat zu einer mehr
peripherischen Machtentwickluug nicht bloß in materieller, sondern auch in gou-
vernemeutalcr Hinsicht; er muß seine Truppen, muß die Blicke seiner Verwaltung,
die Maßregel" seiner hohen und Niedern Polizei vorzugsweise uach deu Grenz-
provinzen werfen. Er muß in der Voraussetzung leben, in den innern Provinzen
des Reiches einen festen und zuverlässigen Kern zu besitzen, welcher specielle
Aufsicht und Bewachung nicht in gleichem Maße beansprucht, wie die mit Enropa's
bedrohlichem Geiste oder Asiens feindlichen Elementen in näherer Berührung
stehenden Laude und Volker. Rußland würde auch einen solchen vollkommen
zuverlässigen Halt in diesem innern Kerne der Monarchie besitzen, wenn nicht seit
Katharina das Nivellirnngs- und PeterSburgisirnngsstrcbeu den nationalrussischen
Boden verlassen hätte, ohne dem strengen Russenthnm 'ein wirkliches Moment zu
geben, woran dieses nationalselbstäudig und nach den ihm naturnothwendigen
Modificationen den Proceß der Europäisirung durchführen könnte. Allein eben
dieses Moment fehlt, weil Nußland keinen Fortschritt einer innern politischen Ge¬
schichte seiner Urvölker zuläßt, während es die materiellen Ergebnisse der fort-


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wahr, halbwahr oder ganz erdichtet war, ist hier nicht zu untersuchen. Es war
nur um ein beiläufiges Exempel zu thun, und daraus hinzuweisen, für welche
Zwecke mitunter solche Aufstandsgerüchte wohl benutzbar sind, und wie wenig,
wenn sie Wahrheit enthalten haben, der Gang der äußern russischen Politik davon
berührt wird. Jene schauernde Beruhigung angstvoller und ruhebedürftiger Ge¬
müther, welche Europa's und namentlich Deutschlands Angelegenheiten krieglos
zur Feststellung gelangend glauben, falls nnr Rußlands Einmischung fern bleibt,
jene Alltagspvlilik, welche aus jedem AnfstandSgerüchte Hoffnung dafür schöpft,
daß Rußland zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei, um eine kriegerische Einmischung
wagen zu dürfen, ist durch das ungarische Beispiel belehrt, und dürste noch
lange umsonst auf Befriedigung ihrer stillen Wünsche warten. Die vom Volke,
von den Massen ausgehende sociale Bewegung der westlichen Provinzen ist für
Nußland ungefährlich. Sie wird dnrch die bevorrechteten Nassen dieser Lande
selbst bekämpft und hat in ihrem Gefolge nnr deren engere Kettung an das russische
Interesse durch deu gänzlichen Verlust ihres Freiherrlichkcitö - und Starosten-
bewnßtseins. Eine auf die Westproviuzeu isolirte Bewegung sogar im Adel und
den „eremten Classen" kann der russischen Negierung nur Mittel zu immer engerer
Umklammerung in die Hand drücken. Gefährlich wird sie erst Bewegungen er¬
achten, welche sich nach dem Innern des Reichs erstrecken und dort ihre Bündner
suchen. Bei der Nachricht von den Warschauer Verhaftungen im Frühling dieses
und im Sommer vorigen Jahres lasen wir ausdrücklich die Notiz, daß sie vorzugs¬
weise Leute getroffen haben, „welche mit geheimen Gesellschaften in Rußland in
Verbindung gestanden."

Anders in den innern Provinzen des Reichs. Die ganze Politik Rußlands,
seine natürliche, wie die künstlich geschaffene, drängt den Staat zu einer mehr
peripherischen Machtentwickluug nicht bloß in materieller, sondern auch in gou-
vernemeutalcr Hinsicht; er muß seine Truppen, muß die Blicke seiner Verwaltung,
die Maßregel« seiner hohen und Niedern Polizei vorzugsweise uach deu Grenz-
provinzen werfen. Er muß in der Voraussetzung leben, in den innern Provinzen
des Reiches einen festen und zuverlässigen Kern zu besitzen, welcher specielle
Aufsicht und Bewachung nicht in gleichem Maße beansprucht, wie die mit Enropa's
bedrohlichem Geiste oder Asiens feindlichen Elementen in näherer Berührung
stehenden Laude und Volker. Rußland würde auch einen solchen vollkommen
zuverlässigen Halt in diesem innern Kerne der Monarchie besitzen, wenn nicht seit
Katharina das Nivellirnngs- und PeterSburgisirnngsstrcbeu den nationalrussischen
Boden verlassen hätte, ohne dem strengen Russenthnm 'ein wirkliches Moment zu
geben, woran dieses nationalselbstäudig und nach den ihm naturnothwendigen
Modificationen den Proceß der Europäisirung durchführen könnte. Allein eben
dieses Moment fehlt, weil Nußland keinen Fortschritt einer innern politischen Ge¬
schichte seiner Urvölker zuläßt, während es die materiellen Ergebnisse der fort-


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[0291] wahr, halbwahr oder ganz erdichtet war, ist hier nicht zu untersuchen. Es war nur um ein beiläufiges Exempel zu thun, und daraus hinzuweisen, für welche Zwecke mitunter solche Aufstandsgerüchte wohl benutzbar sind, und wie wenig, wenn sie Wahrheit enthalten haben, der Gang der äußern russischen Politik davon berührt wird. Jene schauernde Beruhigung angstvoller und ruhebedürftiger Ge¬ müther, welche Europa's und namentlich Deutschlands Angelegenheiten krieglos zur Feststellung gelangend glauben, falls nnr Rußlands Einmischung fern bleibt, jene Alltagspvlilik, welche aus jedem AnfstandSgerüchte Hoffnung dafür schöpft, daß Rußland zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei, um eine kriegerische Einmischung wagen zu dürfen, ist durch das ungarische Beispiel belehrt, und dürste noch lange umsonst auf Befriedigung ihrer stillen Wünsche warten. Die vom Volke, von den Massen ausgehende sociale Bewegung der westlichen Provinzen ist für Nußland ungefährlich. Sie wird dnrch die bevorrechteten Nassen dieser Lande selbst bekämpft und hat in ihrem Gefolge nnr deren engere Kettung an das russische Interesse durch deu gänzlichen Verlust ihres Freiherrlichkcitö - und Starosten- bewnßtseins. Eine auf die Westproviuzeu isolirte Bewegung sogar im Adel und den „eremten Classen" kann der russischen Negierung nur Mittel zu immer engerer Umklammerung in die Hand drücken. Gefährlich wird sie erst Bewegungen er¬ achten, welche sich nach dem Innern des Reichs erstrecken und dort ihre Bündner suchen. Bei der Nachricht von den Warschauer Verhaftungen im Frühling dieses und im Sommer vorigen Jahres lasen wir ausdrücklich die Notiz, daß sie vorzugs¬ weise Leute getroffen haben, „welche mit geheimen Gesellschaften in Rußland in Verbindung gestanden." Anders in den innern Provinzen des Reichs. Die ganze Politik Rußlands, seine natürliche, wie die künstlich geschaffene, drängt den Staat zu einer mehr peripherischen Machtentwickluug nicht bloß in materieller, sondern auch in gou- vernemeutalcr Hinsicht; er muß seine Truppen, muß die Blicke seiner Verwaltung, die Maßregel« seiner hohen und Niedern Polizei vorzugsweise uach deu Grenz- provinzen werfen. Er muß in der Voraussetzung leben, in den innern Provinzen des Reiches einen festen und zuverlässigen Kern zu besitzen, welcher specielle Aufsicht und Bewachung nicht in gleichem Maße beansprucht, wie die mit Enropa's bedrohlichem Geiste oder Asiens feindlichen Elementen in näherer Berührung stehenden Laude und Volker. Rußland würde auch einen solchen vollkommen zuverlässigen Halt in diesem innern Kerne der Monarchie besitzen, wenn nicht seit Katharina das Nivellirnngs- und PeterSburgisirnngsstrcbeu den nationalrussischen Boden verlassen hätte, ohne dem strengen Russenthnm 'ein wirkliches Moment zu geben, woran dieses nationalselbstäudig und nach den ihm naturnothwendigen Modificationen den Proceß der Europäisirung durchführen könnte. Allein eben dieses Moment fehlt, weil Nußland keinen Fortschritt einer innern politischen Ge¬ schichte seiner Urvölker zuläßt, während es die materiellen Ergebnisse der fort- 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/291>, abgerufen am 27.07.2024.