Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.Hier im Westen mischen sich auch bereits die verschiedensten Elemente verwirrend Hier im Westen mischen sich auch bereits die verschiedensten Elemente verwirrend <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85873"/> <p xml:id="ID_1019" prev="#ID_1018" next="#ID_1020"> Hier im Westen mischen sich auch bereits die verschiedensten Elemente verwirrend<lb/> zusammen, und man kann fast niemals bestimmen, ob die Thatsache eines Ausstnndes<lb/> in einer allgemein vcntilircnden Bewegungsidee ihren Grund zu suchen hat,<lb/> oder ob sie rein localen Verhältnissen und augenblicklichen Umständen improvisirt<lb/> entsprang. Allerdings mögen wohl solche locale und momentane Bedingungen<lb/> auch sehr vielen Bauernaufständen des NeicheSinnern zu Grunde liegen. Allein<lb/> schon das eifrige Bestreben gouvernementaler Stimmen, solche improvisirte Ent¬<lb/> stehungsmomente überall und in jedem Einzelfalle geltend zu machen, während<lb/> gerade im innern Rußland derartige Erhebungen wie an einer Pnlverstraße strich¬<lb/> weise fortlaufen, obgleich die Gemeinden durch weite Länderstriche und durch die<lb/> Angehörigkeit an verschiedene Grundherren getrennt sind — erregt lebhafte Zweifel<lb/> gegen den Mangel gemeinsamer, weitverbreiteter Ideen. In den westlichen Pro¬<lb/> vinzen ist dem religiösen Moment — außer neuerdings beim Streite der russischen<lb/> mit der protestantischen Kirche im baltischen Lande — wohl kaum jemals eine Be¬<lb/> deutung zuzuschreiben. Hier gibt der Kampf mit abgestumpften Waffen zwischen<lb/> den grnndbesitzlos Freigelassenen und den ihres Absolutismus nur halb beraubten<lb/> Grundherren ausschließlich das Entstchnngselement für bäuerliche Aufstände. Dem<lb/> Staat, welcher dieses auf beiden Seiten halbe Verhältnis; keineswegs ohne die<lb/> Absicht geschaffen, die eine Gesammtheit durch die andere zu entkräften, sind, aber<lb/> solche „Störungen der öffentlichen Ruhe" vielleicht sogar nicht unwillkommen,<lb/> da sie ihm Gelegenheit geben, im Volke die Eroberungen der russischen Kirche zu<lb/> vergrößern, dem Adel dagegen, unter dein Vorwande der Gewähr kräftigern Schutzes,<lb/> von seiner kümmerlichen Autonomie auch noch die letzten Reste zu entziehen. An<lb/> und für sich keineswegs abgeneigt, gerade die Grenzprvvinzcn gegen Europa mit<lb/> Soldatenmassen zu bedecken, erlangt er dnrch derartige Bewegungen einen plausibeln<lb/> Vorwand zur Anhäufung von Truppenmassen, welche zugleich nach anßen hin mit<lb/> Märschen und Gegenmärschen als unbestimmte Demonstrationen zu wirken höchst<lb/> geeignet erscheinen. Man erinnere sich aus dem Jahre 18ä8 jenes immer wieder¬<lb/> kehrenden Geschreis vom Überschreiten bald der preußischen, bald der östreichischen<lb/> Grenze durch russische Truppen, welches sich zwar nicht bewahrheitete, aber doch<lb/> immer eine gewisse Spannung der Gemüther in Deutschland und Oestreich unterhielt.<lb/> Man erinnere sich auch, daß die wirkliche Anfüllung der westlichen Provinzen mit<lb/> Armeen viel später eintrat, als jene plötzliche das meiste Aufsehen erregende Truppen¬<lb/> diversion vom südlichen nach dem mehr östlichen Theile dieser Gouvernements. Mau<lb/> erinnere sich endlich, daß Gerüchte von weit verbreiteten Banernanfständen in Südpolcn<lb/> und Neurußland dem Hinabzuge, Nachrichten von bäuerlichen Revolten in Litthauen<lb/> dem Hinaufzuge der Truppen vorangingen. Als endlich die Ausstellungen vollendet<lb/> waren, kam's wie eine ans irgend einem russischen Gcsandtschaftsvorzimmer heraus¬<lb/> geflogene Notiz ganz beiläufig in's Publicum, in Litthauen sei die Aufhebung<lb/> einer großen Räuberbande nach hitzigen Gefechten gelungen. Was von dem Allen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0290]
Hier im Westen mischen sich auch bereits die verschiedensten Elemente verwirrend
zusammen, und man kann fast niemals bestimmen, ob die Thatsache eines Ausstnndes
in einer allgemein vcntilircnden Bewegungsidee ihren Grund zu suchen hat,
oder ob sie rein localen Verhältnissen und augenblicklichen Umständen improvisirt
entsprang. Allerdings mögen wohl solche locale und momentane Bedingungen
auch sehr vielen Bauernaufständen des NeicheSinnern zu Grunde liegen. Allein
schon das eifrige Bestreben gouvernementaler Stimmen, solche improvisirte Ent¬
stehungsmomente überall und in jedem Einzelfalle geltend zu machen, während
gerade im innern Rußland derartige Erhebungen wie an einer Pnlverstraße strich¬
weise fortlaufen, obgleich die Gemeinden durch weite Länderstriche und durch die
Angehörigkeit an verschiedene Grundherren getrennt sind — erregt lebhafte Zweifel
gegen den Mangel gemeinsamer, weitverbreiteter Ideen. In den westlichen Pro¬
vinzen ist dem religiösen Moment — außer neuerdings beim Streite der russischen
mit der protestantischen Kirche im baltischen Lande — wohl kaum jemals eine Be¬
deutung zuzuschreiben. Hier gibt der Kampf mit abgestumpften Waffen zwischen
den grnndbesitzlos Freigelassenen und den ihres Absolutismus nur halb beraubten
Grundherren ausschließlich das Entstchnngselement für bäuerliche Aufstände. Dem
Staat, welcher dieses auf beiden Seiten halbe Verhältnis; keineswegs ohne die
Absicht geschaffen, die eine Gesammtheit durch die andere zu entkräften, sind, aber
solche „Störungen der öffentlichen Ruhe" vielleicht sogar nicht unwillkommen,
da sie ihm Gelegenheit geben, im Volke die Eroberungen der russischen Kirche zu
vergrößern, dem Adel dagegen, unter dein Vorwande der Gewähr kräftigern Schutzes,
von seiner kümmerlichen Autonomie auch noch die letzten Reste zu entziehen. An
und für sich keineswegs abgeneigt, gerade die Grenzprvvinzcn gegen Europa mit
Soldatenmassen zu bedecken, erlangt er dnrch derartige Bewegungen einen plausibeln
Vorwand zur Anhäufung von Truppenmassen, welche zugleich nach anßen hin mit
Märschen und Gegenmärschen als unbestimmte Demonstrationen zu wirken höchst
geeignet erscheinen. Man erinnere sich aus dem Jahre 18ä8 jenes immer wieder¬
kehrenden Geschreis vom Überschreiten bald der preußischen, bald der östreichischen
Grenze durch russische Truppen, welches sich zwar nicht bewahrheitete, aber doch
immer eine gewisse Spannung der Gemüther in Deutschland und Oestreich unterhielt.
Man erinnere sich auch, daß die wirkliche Anfüllung der westlichen Provinzen mit
Armeen viel später eintrat, als jene plötzliche das meiste Aufsehen erregende Truppen¬
diversion vom südlichen nach dem mehr östlichen Theile dieser Gouvernements. Mau
erinnere sich endlich, daß Gerüchte von weit verbreiteten Banernanfständen in Südpolcn
und Neurußland dem Hinabzuge, Nachrichten von bäuerlichen Revolten in Litthauen
dem Hinaufzuge der Truppen vorangingen. Als endlich die Ausstellungen vollendet
waren, kam's wie eine ans irgend einem russischen Gcsandtschaftsvorzimmer heraus¬
geflogene Notiz ganz beiläufig in's Publicum, in Litthauen sei die Aufhebung
einer großen Räuberbande nach hitzigen Gefechten gelungen. Was von dem Allen
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