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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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allgemein menschliche Conflicte behandeln, die jede Zeit begreift, jedes Herz
versteht. --

Wir brechen hier ab, um die Miscellen nächstens in Beziehung auf zwei
Punkte, die uns nahe liegen, fortzusetzen: das allmälige Ueberhandnehmen der
kleinen Localstücke und das Nerhaltniß der Oper zu der dramatischen Kunst.




Lide raturblatt.
Romantische Neuigkeiten.

Von Prosper Mvrimöe, über dessen literarischen Charakter im Allgemeinen
wir in unsern "Studien zur Geschichte der französischen Romantik" ein Bild gegeben
haben, ist ein neues Lustspiel erschienen: von guiobottö on Iss ac-ux KöritaZes, mors-
lilö ä plusieui'8 persoimages. Die Ausdrücke inorslite, proverbo, mMer" und tgi.
bezeichnen eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die theatralische Aufführung, die für das
französische Theater ebenso verhängnißvoll werden konnte, wie es bei uns der Fall ge¬
wesen ist, wenn dasselbe nicht schon eine feste Grundlage hätte. Allein auch so ist es
nicht eben ein erfreuliches Zeichen, um so mehr, als gerade die bessern Talente sich dieser
Formlosigkeit zuneige", an der unsere besten Dichter zu Grunde gegangen sind. -- Don
Quichotte hat den Inhalt, der sich jetzt vorzugsweise in der französischen Poesie geltend
macht: eine Satyre gegen den herrschenden Materialismus und Egoismus, der die öffent¬
lichen Angelegenheiten wie die heiligsten Gefühle des Privatlebens zu selbstsüchtigen
Zwecken ausbeutet, und bereits so verhärtet ist, daß er seine Schlechtigkeit gar nicht mehr
empfindet. Ihm wird nicht, wie der Titel vermuthen läßt, ein sorcirtcr Idealis¬
mus entgegengestellt, sondern die einfache Biederkeit eines Mannes aus der guten, alten
Zeit, dem die Verderbniß der Pariser Civilisation so lästig fällt, daß er sich nach Algier
zurückzieht, wo er in seinen wackern Äriegsgefährten wenigstens eine gesunde, wenn auch
rohe Natur findet. -- Also wieder eine Flucht in die Wildniß, wie in den Zeiten
Rousseau's; eine neue Art der Sentimentalität, die unproductiv ist sür die Geschichte.
-- An seinen Zügen und an kühner Erfindung seltsamer und ursprünglicher Charakter
ist auch dieses Stück reich, und so sentimental die leitende Idee, so naiv und liebens¬
würdig ist die Ausführung. -- Ein zweiter Dichter, über den wir schon mehrfach berichtet
haben, Ponsard, ist wieder mit einem seltsamen Product auf das Theater getreten:
Uorsee et l^is, eine Ueberhebung des bekannten 6srinon gmoodooum (der neunten Ode
im 3.,Buch) guna tu, I^als, le-Ivxbum u. s. w., in ein schlechtes Jntriguenstück.
Eine seltsamere Vcnrrung des Geschmacks kann es wohl kaum geben. Die Zierlichkeit
und Anmuth jenes allerliebsten Wechsclgesangs wird in der breiten, pragmatischen Aus¬
führung völlig verwischt,'und die Pointe dadurch vollkommen aufgehoben, daß die beiden
Nebenbuhler, Telcphus und Chloe, auch noch versorgt werden, und zwar durch eine Ver¬
bindung mit einander. Ponsard zeigt mehr und mehr durch das Gesuchte, Gezwungene
in seinen Erfindungen, daß er keine ursprüngliche Dichternatur ist, und die französische


GrcuMcn. III. I8S0. 35

allgemein menschliche Conflicte behandeln, die jede Zeit begreift, jedes Herz
versteht. —

Wir brechen hier ab, um die Miscellen nächstens in Beziehung auf zwei
Punkte, die uns nahe liegen, fortzusetzen: das allmälige Ueberhandnehmen der
kleinen Localstücke und das Nerhaltniß der Oper zu der dramatischen Kunst.




Lide raturblatt.
Romantische Neuigkeiten.

Von Prosper Mvrimöe, über dessen literarischen Charakter im Allgemeinen
wir in unsern „Studien zur Geschichte der französischen Romantik" ein Bild gegeben
haben, ist ein neues Lustspiel erschienen: von guiobottö on Iss ac-ux KöritaZes, mors-
lilö ä plusieui'8 persoimages. Die Ausdrücke inorslite, proverbo, mMer« und tgi.
bezeichnen eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die theatralische Aufführung, die für das
französische Theater ebenso verhängnißvoll werden konnte, wie es bei uns der Fall ge¬
wesen ist, wenn dasselbe nicht schon eine feste Grundlage hätte. Allein auch so ist es
nicht eben ein erfreuliches Zeichen, um so mehr, als gerade die bessern Talente sich dieser
Formlosigkeit zuneige», an der unsere besten Dichter zu Grunde gegangen sind. — Don
Quichotte hat den Inhalt, der sich jetzt vorzugsweise in der französischen Poesie geltend
macht: eine Satyre gegen den herrschenden Materialismus und Egoismus, der die öffent¬
lichen Angelegenheiten wie die heiligsten Gefühle des Privatlebens zu selbstsüchtigen
Zwecken ausbeutet, und bereits so verhärtet ist, daß er seine Schlechtigkeit gar nicht mehr
empfindet. Ihm wird nicht, wie der Titel vermuthen läßt, ein sorcirtcr Idealis¬
mus entgegengestellt, sondern die einfache Biederkeit eines Mannes aus der guten, alten
Zeit, dem die Verderbniß der Pariser Civilisation so lästig fällt, daß er sich nach Algier
zurückzieht, wo er in seinen wackern Äriegsgefährten wenigstens eine gesunde, wenn auch
rohe Natur findet. — Also wieder eine Flucht in die Wildniß, wie in den Zeiten
Rousseau's; eine neue Art der Sentimentalität, die unproductiv ist sür die Geschichte.
— An seinen Zügen und an kühner Erfindung seltsamer und ursprünglicher Charakter
ist auch dieses Stück reich, und so sentimental die leitende Idee, so naiv und liebens¬
würdig ist die Ausführung. — Ein zweiter Dichter, über den wir schon mehrfach berichtet
haben, Ponsard, ist wieder mit einem seltsamen Product auf das Theater getreten:
Uorsee et l^is, eine Ueberhebung des bekannten 6srinon gmoodooum (der neunten Ode
im 3.,Buch) guna tu, I^als, le-Ivxbum u. s. w., in ein schlechtes Jntriguenstück.
Eine seltsamere Vcnrrung des Geschmacks kann es wohl kaum geben. Die Zierlichkeit
und Anmuth jenes allerliebsten Wechsclgesangs wird in der breiten, pragmatischen Aus¬
führung völlig verwischt,'und die Pointe dadurch vollkommen aufgehoben, daß die beiden
Nebenbuhler, Telcphus und Chloe, auch noch versorgt werden, und zwar durch eine Ver¬
bindung mit einander. Ponsard zeigt mehr und mehr durch das Gesuchte, Gezwungene
in seinen Erfindungen, daß er keine ursprüngliche Dichternatur ist, und die französische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/281>, abgerufen am 27.07.2024.