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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Allein diese goldene Zeit währte mir ein Jahr. Im Januar 1842 wurde
das Regiment nach Südrußland geschickt, und zur Besatzung einer Menge
kleiner Militärposten unterhalb der Nogaischen Steppe und an der Dnieprkrüm-
muug verwendet. D. ward mit 19 andern unter dem Commando eines Lieu¬
tenants in ein Steppcndorf gesandt. Das Dorf besteht aus neun Hütten, sämmt-
lich uuter der Erde, sind kaum in der nächsten Nähe sichtbar. Von Feldbau
keine Rede. Das Dorf ist ein Eigenthum der Krone. "Hunderttausend solche
Perlen", schreibt der russische Soldat aus dem Erdloch der Steppe an seine
Mutter, "machen die Krone des Kaisers noch zu keiner Kostbarkeit."

Dicht beim Dorfe befand sich das Wachhaus, ans Steppcukalk erbaut, dabei
Küche und Stall unter der Erde mit einem Dach von Schilf bedeckt. Von
Seite dieser Leute wurden die Soldaten und auch D. mit großer Freundlichkeit
behandelt. Der Lieutenant schien die Mißhandlung des Polen sür eine Dienst¬
pflicht zu halten. Im Frühjahr 1843 hatte er Briefschaften nach dem fast 80
Meilen entfernten O. abzusenden. Sowohl die kertscher Caravane als. auch
die' Militärbotschaft von Petrowskaja bot ihm die geeignetesten Mittel dazu.
Allein er befehligte D. zu diesem fürchterlichen Botendienst und schrieb ihm die
Route so vor, daß es kaum möglich war den Dienst zu leisten. Er hatte nach
derselben täglich fünf Meilen oder fünf und dreißig Werst zurück zu legen, und
sollte am 19 Juni, also nach 38 Tagen, wieder eintreffen. Und damit er von:
Wege nicht abweichen könne, hatte er sich in acht Städten bei bestümuteu Offizie¬
ren an genau angegebenen Tagen zu melden und vou deuen sein Reisegeld in
Empfang zu nehmen. Fünfzig (Palky) Knuteuschläge bedroheten seinen Rücken,
sofern er der Vorschrift nicht nachkomme oder sie übertrete. D. schreibt, er
habe vor Wuth und Verzweiflung knirschend seine Wanderschaft angetreten. Der
Gedanke zu dcsertircn, sagt er, sei hundert Mal in seinem Kopfe lebendig ge¬
worden und die Lust dazu sei groß gewesen; allein die Unmöglichkeit eines glück¬
lichen Davonkommens habe ihm doch zu klar vor Augen gestanden. Endlich
beschloß er, sich an den General G. II. oder an den General R. im O. mit
einem Bittgesuch um Versetzung in ein anderes Regiment zu wenden, und dieser
Gedanke erfüllte ihn aufs Neue mit Muth und Trost.

Am ersten Tage legte D. sechs volle Meilen zurück und freuete sich, durch
dieses Mehr etwas gewonnen zu haben; allein schon am anderen Tage spürte er
eine merkliche Abnahme der Kräfte, doch hielt er sieben Tage lang genau seine
Marschroute, wie entsetzlich auch die Wanderung wegen der theils sehr schlech¬
ten, theils ganz mangelnden Bahn war. Obschon seine Fußsohlen hart wie Horn
waren, erhielten sie doch eine Menge Blasen, die ihn zwangen barfuß zu gehen;
doch hätte ich noch lieber die Qual an den Füßen, als den Druck des Tornisters,
Czakos und Gewehres ertragen. Am elften Tage schwollen ihm die Füße um die
Knöchel herum und es war ihm kaum mehr möglich zu gehen. Doch hätte er


Allein diese goldene Zeit währte mir ein Jahr. Im Januar 1842 wurde
das Regiment nach Südrußland geschickt, und zur Besatzung einer Menge
kleiner Militärposten unterhalb der Nogaischen Steppe und an der Dnieprkrüm-
muug verwendet. D. ward mit 19 andern unter dem Commando eines Lieu¬
tenants in ein Steppcndorf gesandt. Das Dorf besteht aus neun Hütten, sämmt-
lich uuter der Erde, sind kaum in der nächsten Nähe sichtbar. Von Feldbau
keine Rede. Das Dorf ist ein Eigenthum der Krone. „Hunderttausend solche
Perlen", schreibt der russische Soldat aus dem Erdloch der Steppe an seine
Mutter, „machen die Krone des Kaisers noch zu keiner Kostbarkeit."

Dicht beim Dorfe befand sich das Wachhaus, ans Steppcukalk erbaut, dabei
Küche und Stall unter der Erde mit einem Dach von Schilf bedeckt. Von
Seite dieser Leute wurden die Soldaten und auch D. mit großer Freundlichkeit
behandelt. Der Lieutenant schien die Mißhandlung des Polen sür eine Dienst¬
pflicht zu halten. Im Frühjahr 1843 hatte er Briefschaften nach dem fast 80
Meilen entfernten O. abzusenden. Sowohl die kertscher Caravane als. auch
die' Militärbotschaft von Petrowskaja bot ihm die geeignetesten Mittel dazu.
Allein er befehligte D. zu diesem fürchterlichen Botendienst und schrieb ihm die
Route so vor, daß es kaum möglich war den Dienst zu leisten. Er hatte nach
derselben täglich fünf Meilen oder fünf und dreißig Werst zurück zu legen, und
sollte am 19 Juni, also nach 38 Tagen, wieder eintreffen. Und damit er von:
Wege nicht abweichen könne, hatte er sich in acht Städten bei bestümuteu Offizie¬
ren an genau angegebenen Tagen zu melden und vou deuen sein Reisegeld in
Empfang zu nehmen. Fünfzig (Palky) Knuteuschläge bedroheten seinen Rücken,
sofern er der Vorschrift nicht nachkomme oder sie übertrete. D. schreibt, er
habe vor Wuth und Verzweiflung knirschend seine Wanderschaft angetreten. Der
Gedanke zu dcsertircn, sagt er, sei hundert Mal in seinem Kopfe lebendig ge¬
worden und die Lust dazu sei groß gewesen; allein die Unmöglichkeit eines glück¬
lichen Davonkommens habe ihm doch zu klar vor Augen gestanden. Endlich
beschloß er, sich an den General G. II. oder an den General R. im O. mit
einem Bittgesuch um Versetzung in ein anderes Regiment zu wenden, und dieser
Gedanke erfüllte ihn aufs Neue mit Muth und Trost.

Am ersten Tage legte D. sechs volle Meilen zurück und freuete sich, durch
dieses Mehr etwas gewonnen zu haben; allein schon am anderen Tage spürte er
eine merkliche Abnahme der Kräfte, doch hielt er sieben Tage lang genau seine
Marschroute, wie entsetzlich auch die Wanderung wegen der theils sehr schlech¬
ten, theils ganz mangelnden Bahn war. Obschon seine Fußsohlen hart wie Horn
waren, erhielten sie doch eine Menge Blasen, die ihn zwangen barfuß zu gehen;
doch hätte ich noch lieber die Qual an den Füßen, als den Druck des Tornisters,
Czakos und Gewehres ertragen. Am elften Tage schwollen ihm die Füße um die
Knöchel herum und es war ihm kaum mehr möglich zu gehen. Doch hätte er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/28>, abgerufen am 06.10.2024.