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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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doch weit nachstanden. Er mußte täglich die Schuhe seiner Stubengenossen, vom
ältesten bis zum jüngsten hinab, mit Thran putzen, er allein mußte die Nachtge¬
fäße täglich aus dem Schlastvcale tragen, gerade er mußte, und das war am
schwersten, jeden Freitag das Hemd des Unteroffiziers seiner Zelle waschen und
erlitt dabei regelmäßig arge Mißhandlungen. Alles, was ihm wehe that, bereitete
man ihm, und mit Dienstverrichtnngen wurde er so überladen, daß er oft noch
arbeitete, wenn die russischen Knaben längst im Schlaf lagen. Die meisten Mi߬
handlungen zog ihm seine Sprache zu; jedes polnische Wort, welches ihm von der
Zunge glitt, hatten Rippenstöße und Schläge zur Folge, und auf das Recht zu
diesen Mißhandlungen waren die russische": Zöglinge ' geradezu angewiesen.
"Es ist", schreibt er, "unbeschreiblich, was ich hier gelitten habe," und man
darf dies wohl glauben.

Im Jahre 1836 rückte er in eine höhere Classe. Nach dem Schulgesetz
sollten die Knaben der untersten Classe denen der höheren dienstbar sein; allein
er mußte auch den Schülern der untersten Classe die Schuhe mit Thran reiben
und die Töpfe austragen. Ans seine weit über diese Schulanstalt hinausgehenden
Kenntnisse nahm man keine Rücksicht; ja gerade wegen seiner überlegenen Kennt¬
nisse wurde er wieder in die unterste Classe zurückversetzt. Denn vou der Erinnerung
an des Mickiewicz begeisternde Gedichte ergriffen, zugleich von dem Druck seiner
Lage zu einer Seelenergießnng gedrängt, hatte er eine Menge kleiner Poesien
geschrieben und diese in einem Heftchen vereinigt. "Diese Verse", schreibt er,
"waren meine Gesangsbnchslieder und meine Bibelverse; ich las sie gern, weinte
dabei und phantastrte mich in eine bessere Zukunft." Das Heftchen aber wurde
ihm von einem russischen Knaben weggenommen und dem Director übergeben.
Statt daß dieser böse Mensch sich über eine frische Entwickelung von Geistesgaben
hätte freuen sollen, ergrimmte er, zerschlug das Heft an dem Kopfe des Poeten
und setzte denselben in die unterste Classe zurück.

Die martervollen sechs Jahre strichen vorüber. Vor der Entlassung wurde
D. noch aufgefordert, sich in die griechische Kirche aufnehmen zu lassen, aber trotz
verschiedenen Drohungen entschloß er sich nicht dazu, und man mußte sich mit der
Erklärung beruhigen, daß er ja mit seinen Schulgenossen alle religiösen Hand¬
lungen mitmache und für sein Verhältniß daher genügend zur griechischen Kirche
gehöre.

Endlich, zu Anfang des Jahres 1841, wurde er in eine der beiden Jnfan-
teriecompanicn zu S. als gemeiner Soldat eingestellt. Der Hauptmann, ein
leutseliger und den Polen nicht allzu grimmiger, jedoch sehr roher Mensch, be¬
nutzte die Kenntnisse des jungen D. in seiner Kanzlei und behandelte deu Schrei¬
ben nicht ohne Liebe, so daß dieser den Aufenthalt bei ihm "die goldene Zeit sei¬
nes verdorbenen Lebens" nennt. Daß er die Kinder der Frau Hauptmännin
warten, sogar waschen mußte, nennt er ein poetisches und belustigendes Schicksal.


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doch weit nachstanden. Er mußte täglich die Schuhe seiner Stubengenossen, vom
ältesten bis zum jüngsten hinab, mit Thran putzen, er allein mußte die Nachtge¬
fäße täglich aus dem Schlastvcale tragen, gerade er mußte, und das war am
schwersten, jeden Freitag das Hemd des Unteroffiziers seiner Zelle waschen und
erlitt dabei regelmäßig arge Mißhandlungen. Alles, was ihm wehe that, bereitete
man ihm, und mit Dienstverrichtnngen wurde er so überladen, daß er oft noch
arbeitete, wenn die russischen Knaben längst im Schlaf lagen. Die meisten Mi߬
handlungen zog ihm seine Sprache zu; jedes polnische Wort, welches ihm von der
Zunge glitt, hatten Rippenstöße und Schläge zur Folge, und auf das Recht zu
diesen Mißhandlungen waren die russische»: Zöglinge ' geradezu angewiesen.
„Es ist", schreibt er, „unbeschreiblich, was ich hier gelitten habe," und man
darf dies wohl glauben.

Im Jahre 1836 rückte er in eine höhere Classe. Nach dem Schulgesetz
sollten die Knaben der untersten Classe denen der höheren dienstbar sein; allein
er mußte auch den Schülern der untersten Classe die Schuhe mit Thran reiben
und die Töpfe austragen. Ans seine weit über diese Schulanstalt hinausgehenden
Kenntnisse nahm man keine Rücksicht; ja gerade wegen seiner überlegenen Kennt¬
nisse wurde er wieder in die unterste Classe zurückversetzt. Denn vou der Erinnerung
an des Mickiewicz begeisternde Gedichte ergriffen, zugleich von dem Druck seiner
Lage zu einer Seelenergießnng gedrängt, hatte er eine Menge kleiner Poesien
geschrieben und diese in einem Heftchen vereinigt. „Diese Verse", schreibt er,
„waren meine Gesangsbnchslieder und meine Bibelverse; ich las sie gern, weinte
dabei und phantastrte mich in eine bessere Zukunft." Das Heftchen aber wurde
ihm von einem russischen Knaben weggenommen und dem Director übergeben.
Statt daß dieser böse Mensch sich über eine frische Entwickelung von Geistesgaben
hätte freuen sollen, ergrimmte er, zerschlug das Heft an dem Kopfe des Poeten
und setzte denselben in die unterste Classe zurück.

Die martervollen sechs Jahre strichen vorüber. Vor der Entlassung wurde
D. noch aufgefordert, sich in die griechische Kirche aufnehmen zu lassen, aber trotz
verschiedenen Drohungen entschloß er sich nicht dazu, und man mußte sich mit der
Erklärung beruhigen, daß er ja mit seinen Schulgenossen alle religiösen Hand¬
lungen mitmache und für sein Verhältniß daher genügend zur griechischen Kirche
gehöre.

Endlich, zu Anfang des Jahres 1841, wurde er in eine der beiden Jnfan-
teriecompanicn zu S. als gemeiner Soldat eingestellt. Der Hauptmann, ein
leutseliger und den Polen nicht allzu grimmiger, jedoch sehr roher Mensch, be¬
nutzte die Kenntnisse des jungen D. in seiner Kanzlei und behandelte deu Schrei¬
ben nicht ohne Liebe, so daß dieser den Aufenthalt bei ihm „die goldene Zeit sei¬
nes verdorbenen Lebens" nennt. Daß er die Kinder der Frau Hauptmännin
warten, sogar waschen mußte, nennt er ein poetisches und belustigendes Schicksal.


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[0027] doch weit nachstanden. Er mußte täglich die Schuhe seiner Stubengenossen, vom ältesten bis zum jüngsten hinab, mit Thran putzen, er allein mußte die Nachtge¬ fäße täglich aus dem Schlastvcale tragen, gerade er mußte, und das war am schwersten, jeden Freitag das Hemd des Unteroffiziers seiner Zelle waschen und erlitt dabei regelmäßig arge Mißhandlungen. Alles, was ihm wehe that, bereitete man ihm, und mit Dienstverrichtnngen wurde er so überladen, daß er oft noch arbeitete, wenn die russischen Knaben längst im Schlaf lagen. Die meisten Mi߬ handlungen zog ihm seine Sprache zu; jedes polnische Wort, welches ihm von der Zunge glitt, hatten Rippenstöße und Schläge zur Folge, und auf das Recht zu diesen Mißhandlungen waren die russische»: Zöglinge ' geradezu angewiesen. „Es ist", schreibt er, „unbeschreiblich, was ich hier gelitten habe," und man darf dies wohl glauben. Im Jahre 1836 rückte er in eine höhere Classe. Nach dem Schulgesetz sollten die Knaben der untersten Classe denen der höheren dienstbar sein; allein er mußte auch den Schülern der untersten Classe die Schuhe mit Thran reiben und die Töpfe austragen. Ans seine weit über diese Schulanstalt hinausgehenden Kenntnisse nahm man keine Rücksicht; ja gerade wegen seiner überlegenen Kennt¬ nisse wurde er wieder in die unterste Classe zurückversetzt. Denn vou der Erinnerung an des Mickiewicz begeisternde Gedichte ergriffen, zugleich von dem Druck seiner Lage zu einer Seelenergießnng gedrängt, hatte er eine Menge kleiner Poesien geschrieben und diese in einem Heftchen vereinigt. „Diese Verse", schreibt er, „waren meine Gesangsbnchslieder und meine Bibelverse; ich las sie gern, weinte dabei und phantastrte mich in eine bessere Zukunft." Das Heftchen aber wurde ihm von einem russischen Knaben weggenommen und dem Director übergeben. Statt daß dieser böse Mensch sich über eine frische Entwickelung von Geistesgaben hätte freuen sollen, ergrimmte er, zerschlug das Heft an dem Kopfe des Poeten und setzte denselben in die unterste Classe zurück. Die martervollen sechs Jahre strichen vorüber. Vor der Entlassung wurde D. noch aufgefordert, sich in die griechische Kirche aufnehmen zu lassen, aber trotz verschiedenen Drohungen entschloß er sich nicht dazu, und man mußte sich mit der Erklärung beruhigen, daß er ja mit seinen Schulgenossen alle religiösen Hand¬ lungen mitmache und für sein Verhältniß daher genügend zur griechischen Kirche gehöre. Endlich, zu Anfang des Jahres 1841, wurde er in eine der beiden Jnfan- teriecompanicn zu S. als gemeiner Soldat eingestellt. Der Hauptmann, ein leutseliger und den Polen nicht allzu grimmiger, jedoch sehr roher Mensch, be¬ nutzte die Kenntnisse des jungen D. in seiner Kanzlei und behandelte deu Schrei¬ ben nicht ohne Liebe, so daß dieser den Aufenthalt bei ihm „die goldene Zeit sei¬ nes verdorbenen Lebens" nennt. Daß er die Kinder der Frau Hauptmännin warten, sogar waschen mußte, nennt er ein poetisches und belustigendes Schicksal. 3*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/27>, abgerufen am 27.07.2024.