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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Starowerzen üben auf Rußland und sein Gouvernement einen geheimnißvollen
und tiefen moralischen Einfluß; bei jeder Frage der Gesetzgebung, der kirchlichen
Verhältnisse, der innern Politik, bei allen vorgeschlagenen Verbesserungen und
Veränderungen fragt mau sich im Geheim zunächst: was werden die Starowerzen
dazu sagen?" Zwar fügt derselbe Schriftsteller beschwichtigend bei: "Sie sind die
Krystallisation des Altrussenthums, sie repräsentiren in Rußland das Princip der
Stabilität oder vielmehr der starren Vergangenheit", aber trotzdem wiederholt er
schließlich: "Sie sind der Regulator, an dem man beobachten muß, wie weit man
bei Veränderungen gehen darf." Diese Veränderungen haben sich aber, soweit
sie politischer Natur, fortwährend ans den Grundsatz basirt, daß der Czar die
"Jncarnation des russischen Geistes," daß die Leibeigenschaft ein historisch berech¬
tigter Zustand des Volkes; die Vertreter "der starren Vergangenheit" verneinen
Beides und reichen eben darum in ihren Endverzweiguugen den Vertretern des
Europäismuö (man erlaube diesen vagen Ausdruck) die Hand.

Als solche darf mau zunächst auf dein kirchlichen Gebiet vorzugsweise die an¬
dere Hauptsecte der russischen Kirche, die Duch aborzen, bezeichnen. War schon der
Name Starowerzen ein Collectivbegriff, welcher sehr verschiedene Ausbildungen
gewisser gemeinsamer Grundsätze, eine ganze Schaar von Religionsgesellschaften
mit oft kaum nachweisbarer Gemeinsamkeit ihres Ursprungs bezeichnet, so gilt dies
in noch höherem Maße von den Duchaborzen. Die russische Volkssprache hat
auch wirklich für beide Richtungen der Sectirerei vollkommen collective Bezeich¬
nungen. Alle jene Secten, welche sich näher oder ferner um das altkatholische
Element der orthodoxen Kirche gruppiren, nennt sie Roskolniks (Ketzer), alle übrigen
Dissenters, deren Ursprung der Zeit uach Peter I. angehört und sich auf europäische
Einflüsse zurückführt, Farmason, worin man eine Nussificirung des Wortes
ma^on gesunden haben will. Wie dem auch sei, soviel ist gewiß, daß die Ducha¬
borzen (Kämpfer des Lichts, des Geistes, von I)uel> -- Geist und borosHa--ringen)
nicht gleich den Starowerzen ihren Ursprung aus der Spaltung der orientalischen
Kirche unter nitor, sondern aus viel neuerer Zeit datiren. Peter III., der Freund
ausländischer Lebeusgestaltungen und in seiner kurzen Regierungszeit bestrebt, den
CzarendeöpotiSmnS uicht bloß seines asiatischen Gewandes zu entkleiden, sondern
auch die politischen und socialen Verhältnisse des Volks mit dem übrigen Europa in
Einklang zu setzen, und darum durch eine Palastrevolution gemordet -- Peter III.
gilt den Duchaborzen traditionell als Stifter ihrer Lehre. Ihre Entstehung fällt
also mit der Blüthe des Illuminaten- und Freimanrerwcsens in Europa zusam¬
men. Indessen ist ihre Lehre mit den ursprüngliche" Dogmen des orientalischen
Katholicismus nicht in principiellen Gegensatz, hat aber die Hanptlehren des abend¬
ländischen Katholicismus darein übertragen. Soweit irgend bestimmtere Nach¬
richten zurückreichen, vorzugsweise dahin gerichtet, die orientalische Kirche ihrer
sinnlichen Einhüllung zu entkleiden und ihre Versteinnng in Ceremonien zu ent-


Starowerzen üben auf Rußland und sein Gouvernement einen geheimnißvollen
und tiefen moralischen Einfluß; bei jeder Frage der Gesetzgebung, der kirchlichen
Verhältnisse, der innern Politik, bei allen vorgeschlagenen Verbesserungen und
Veränderungen fragt mau sich im Geheim zunächst: was werden die Starowerzen
dazu sagen?" Zwar fügt derselbe Schriftsteller beschwichtigend bei: „Sie sind die
Krystallisation des Altrussenthums, sie repräsentiren in Rußland das Princip der
Stabilität oder vielmehr der starren Vergangenheit", aber trotzdem wiederholt er
schließlich: „Sie sind der Regulator, an dem man beobachten muß, wie weit man
bei Veränderungen gehen darf." Diese Veränderungen haben sich aber, soweit
sie politischer Natur, fortwährend ans den Grundsatz basirt, daß der Czar die
„Jncarnation des russischen Geistes," daß die Leibeigenschaft ein historisch berech¬
tigter Zustand des Volkes; die Vertreter „der starren Vergangenheit" verneinen
Beides und reichen eben darum in ihren Endverzweiguugen den Vertretern des
Europäismuö (man erlaube diesen vagen Ausdruck) die Hand.

Als solche darf mau zunächst auf dein kirchlichen Gebiet vorzugsweise die an¬
dere Hauptsecte der russischen Kirche, die Duch aborzen, bezeichnen. War schon der
Name Starowerzen ein Collectivbegriff, welcher sehr verschiedene Ausbildungen
gewisser gemeinsamer Grundsätze, eine ganze Schaar von Religionsgesellschaften
mit oft kaum nachweisbarer Gemeinsamkeit ihres Ursprungs bezeichnet, so gilt dies
in noch höherem Maße von den Duchaborzen. Die russische Volkssprache hat
auch wirklich für beide Richtungen der Sectirerei vollkommen collective Bezeich¬
nungen. Alle jene Secten, welche sich näher oder ferner um das altkatholische
Element der orthodoxen Kirche gruppiren, nennt sie Roskolniks (Ketzer), alle übrigen
Dissenters, deren Ursprung der Zeit uach Peter I. angehört und sich auf europäische
Einflüsse zurückführt, Farmason, worin man eine Nussificirung des Wortes
ma^on gesunden haben will. Wie dem auch sei, soviel ist gewiß, daß die Ducha¬
borzen (Kämpfer des Lichts, des Geistes, von I)uel> — Geist und borosHa—ringen)
nicht gleich den Starowerzen ihren Ursprung aus der Spaltung der orientalischen
Kirche unter nitor, sondern aus viel neuerer Zeit datiren. Peter III., der Freund
ausländischer Lebeusgestaltungen und in seiner kurzen Regierungszeit bestrebt, den
CzarendeöpotiSmnS uicht bloß seines asiatischen Gewandes zu entkleiden, sondern
auch die politischen und socialen Verhältnisse des Volks mit dem übrigen Europa in
Einklang zu setzen, und darum durch eine Palastrevolution gemordet — Peter III.
gilt den Duchaborzen traditionell als Stifter ihrer Lehre. Ihre Entstehung fällt
also mit der Blüthe des Illuminaten- und Freimanrerwcsens in Europa zusam¬
men. Indessen ist ihre Lehre mit den ursprüngliche» Dogmen des orientalischen
Katholicismus nicht in principiellen Gegensatz, hat aber die Hanptlehren des abend¬
ländischen Katholicismus darein übertragen. Soweit irgend bestimmtere Nach¬
richten zurückreichen, vorzugsweise dahin gerichtet, die orientalische Kirche ihrer
sinnlichen Einhüllung zu entkleiden und ihre Versteinnng in Ceremonien zu ent-


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[0256] Starowerzen üben auf Rußland und sein Gouvernement einen geheimnißvollen und tiefen moralischen Einfluß; bei jeder Frage der Gesetzgebung, der kirchlichen Verhältnisse, der innern Politik, bei allen vorgeschlagenen Verbesserungen und Veränderungen fragt mau sich im Geheim zunächst: was werden die Starowerzen dazu sagen?" Zwar fügt derselbe Schriftsteller beschwichtigend bei: „Sie sind die Krystallisation des Altrussenthums, sie repräsentiren in Rußland das Princip der Stabilität oder vielmehr der starren Vergangenheit", aber trotzdem wiederholt er schließlich: „Sie sind der Regulator, an dem man beobachten muß, wie weit man bei Veränderungen gehen darf." Diese Veränderungen haben sich aber, soweit sie politischer Natur, fortwährend ans den Grundsatz basirt, daß der Czar die „Jncarnation des russischen Geistes," daß die Leibeigenschaft ein historisch berech¬ tigter Zustand des Volkes; die Vertreter „der starren Vergangenheit" verneinen Beides und reichen eben darum in ihren Endverzweiguugen den Vertretern des Europäismuö (man erlaube diesen vagen Ausdruck) die Hand. Als solche darf mau zunächst auf dein kirchlichen Gebiet vorzugsweise die an¬ dere Hauptsecte der russischen Kirche, die Duch aborzen, bezeichnen. War schon der Name Starowerzen ein Collectivbegriff, welcher sehr verschiedene Ausbildungen gewisser gemeinsamer Grundsätze, eine ganze Schaar von Religionsgesellschaften mit oft kaum nachweisbarer Gemeinsamkeit ihres Ursprungs bezeichnet, so gilt dies in noch höherem Maße von den Duchaborzen. Die russische Volkssprache hat auch wirklich für beide Richtungen der Sectirerei vollkommen collective Bezeich¬ nungen. Alle jene Secten, welche sich näher oder ferner um das altkatholische Element der orthodoxen Kirche gruppiren, nennt sie Roskolniks (Ketzer), alle übrigen Dissenters, deren Ursprung der Zeit uach Peter I. angehört und sich auf europäische Einflüsse zurückführt, Farmason, worin man eine Nussificirung des Wortes ma^on gesunden haben will. Wie dem auch sei, soviel ist gewiß, daß die Ducha¬ borzen (Kämpfer des Lichts, des Geistes, von I)uel> — Geist und borosHa—ringen) nicht gleich den Starowerzen ihren Ursprung aus der Spaltung der orientalischen Kirche unter nitor, sondern aus viel neuerer Zeit datiren. Peter III., der Freund ausländischer Lebeusgestaltungen und in seiner kurzen Regierungszeit bestrebt, den CzarendeöpotiSmnS uicht bloß seines asiatischen Gewandes zu entkleiden, sondern auch die politischen und socialen Verhältnisse des Volks mit dem übrigen Europa in Einklang zu setzen, und darum durch eine Palastrevolution gemordet — Peter III. gilt den Duchaborzen traditionell als Stifter ihrer Lehre. Ihre Entstehung fällt also mit der Blüthe des Illuminaten- und Freimanrerwcsens in Europa zusam¬ men. Indessen ist ihre Lehre mit den ursprüngliche» Dogmen des orientalischen Katholicismus nicht in principiellen Gegensatz, hat aber die Hanptlehren des abend¬ ländischen Katholicismus darein übertragen. Soweit irgend bestimmtere Nach¬ richten zurückreichen, vorzugsweise dahin gerichtet, die orientalische Kirche ihrer sinnlichen Einhüllung zu entkleiden und ihre Versteinnng in Ceremonien zu ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/256>, abgerufen am 27.07.2024.