Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

materielles Wohlbefinden davon die Folge. Ja selbst Bewunderer der russischen
Regierung gestehen ein, daß die Starowerzen "im Allgemeinen einfacher, sitten¬
reiner, nüchterner, zuverlässiger als die übrigen russischen Bauern," daß sie meistens
"durch eine gewisse Bildung den umwohnenden Russen weit überlegen" sind. Bei
der für das Beispiel so empfänglichen Natur des Russen, bei dem slavischen
Nachahmungstrieb überhaupt mußte sonach eine Ruck- und Weiterwirkung auf
die außerhalb der Secte stehenden Bcvvlkerungsschichten eine natürliche Folge
dieser Verhältnisse werden. Die große Achtung, welche das Starowerzenthum
als selbständige Macht genoß, führte ihm ebenfalls immer neue Bekenner zu,
während es der Staatskirche die ihren entfremdete. Dies um so mehr, weil
dasselbe seine Lehren keineswegs versteinte, sondern vielmehr je nach den socialen
und politischen Verhältnissen, nnter denen seine Bekenner ihren Sitz aufgeschlagen,
zwar nicht veränderte, aber insofern modiftcirte, als der eine und andere Grund¬
satz mehr in den Bordergrund tritt oder mehr zurückgeschoben wird. So ist es
eine um sich greifende Macht unter den eigentlichen Großrussen, wie uuter den
Kosaken, eine nationale Autorität unter den Kleinrussen geworden, und erobert
eben in neuerer Zeit durch seine vorwiegend sociale Richtung in Süd- und
Nenrnßland immer weitere Kreise.

Ueberblicken wir nun die Nachrichten, welche freilich sparsam ans den ver¬
schiedenen Theilen des Ungeheuern Reiches zusammenfließen, so erscheinen zwei
Thatsachen von höchster Wichtigkeit: die Starowerzen Großrußlands, des eigentlichen
Moskvwiens, bilden die altkatholische nationale Opposition gegen die moderne Ge¬
staltung des Herrschcrbegriffs, der Staatskirche und der politischen Verfassung,
die Starowerzen der den Neichsgrenzen näher gelegenen Provinzen scheiden sich
in unzählbare Seelen, denen zwar ebenfalls das Festhalten am altkatholischen
Elemente der Unabhängigkeit der Kirche vom Staate, so wie der Nichtanerkenntniß
des Czaren als Kirchenoberhaupt dogmatisch gemeinsam ist, welche aber in ihren
praktischen Bestrebungen das Moment der socialen Opposition gegen die Stände-
scheidnng, gegen die Leibeigenschaft, gegen die politische Bevorzugung des Adels
vorzugsweise ausgearbeitet haben. Im Innern des Reiches, vornämlich in Moskau
und Nowgorod (auch selbst in Petersburg) hat sich ein ziemlich enger Zusammen¬
hang zwischen den Altgläubigen und der nationalrussischen Aristokratie herausge¬
stellt, während in den mehr peripherischen Provinzen das Starvwcrzenwesen seine
weiteste Verbreitung unter den Bauern, den kleinern Kaufleuten und Gewerbtrei-
benden, kurz unter den politischen Parias fand. Die eigentliche Gelehrtenwelt,
so wie die Beamten blieben ihm freilich fast überall fremd, dock liegt darin vielleicht
eben ein Grund für dessen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Volke. Wie
groß aber die Macht dieser Secte und ihrer vielfachen Abzweigungen, beweist am
besten, daß bereits vor drei Jahren ein inniger Bewunderer russischer Staatskunst,
wie der gouvernementalen Gestaltungen des russischen Volkslebens schrieb: "Die


materielles Wohlbefinden davon die Folge. Ja selbst Bewunderer der russischen
Regierung gestehen ein, daß die Starowerzen „im Allgemeinen einfacher, sitten¬
reiner, nüchterner, zuverlässiger als die übrigen russischen Bauern," daß sie meistens
„durch eine gewisse Bildung den umwohnenden Russen weit überlegen" sind. Bei
der für das Beispiel so empfänglichen Natur des Russen, bei dem slavischen
Nachahmungstrieb überhaupt mußte sonach eine Ruck- und Weiterwirkung auf
die außerhalb der Secte stehenden Bcvvlkerungsschichten eine natürliche Folge
dieser Verhältnisse werden. Die große Achtung, welche das Starowerzenthum
als selbständige Macht genoß, führte ihm ebenfalls immer neue Bekenner zu,
während es der Staatskirche die ihren entfremdete. Dies um so mehr, weil
dasselbe seine Lehren keineswegs versteinte, sondern vielmehr je nach den socialen
und politischen Verhältnissen, nnter denen seine Bekenner ihren Sitz aufgeschlagen,
zwar nicht veränderte, aber insofern modiftcirte, als der eine und andere Grund¬
satz mehr in den Bordergrund tritt oder mehr zurückgeschoben wird. So ist es
eine um sich greifende Macht unter den eigentlichen Großrussen, wie uuter den
Kosaken, eine nationale Autorität unter den Kleinrussen geworden, und erobert
eben in neuerer Zeit durch seine vorwiegend sociale Richtung in Süd- und
Nenrnßland immer weitere Kreise.

Ueberblicken wir nun die Nachrichten, welche freilich sparsam ans den ver¬
schiedenen Theilen des Ungeheuern Reiches zusammenfließen, so erscheinen zwei
Thatsachen von höchster Wichtigkeit: die Starowerzen Großrußlands, des eigentlichen
Moskvwiens, bilden die altkatholische nationale Opposition gegen die moderne Ge¬
staltung des Herrschcrbegriffs, der Staatskirche und der politischen Verfassung,
die Starowerzen der den Neichsgrenzen näher gelegenen Provinzen scheiden sich
in unzählbare Seelen, denen zwar ebenfalls das Festhalten am altkatholischen
Elemente der Unabhängigkeit der Kirche vom Staate, so wie der Nichtanerkenntniß
des Czaren als Kirchenoberhaupt dogmatisch gemeinsam ist, welche aber in ihren
praktischen Bestrebungen das Moment der socialen Opposition gegen die Stände-
scheidnng, gegen die Leibeigenschaft, gegen die politische Bevorzugung des Adels
vorzugsweise ausgearbeitet haben. Im Innern des Reiches, vornämlich in Moskau
und Nowgorod (auch selbst in Petersburg) hat sich ein ziemlich enger Zusammen¬
hang zwischen den Altgläubigen und der nationalrussischen Aristokratie herausge¬
stellt, während in den mehr peripherischen Provinzen das Starvwcrzenwesen seine
weiteste Verbreitung unter den Bauern, den kleinern Kaufleuten und Gewerbtrei-
benden, kurz unter den politischen Parias fand. Die eigentliche Gelehrtenwelt,
so wie die Beamten blieben ihm freilich fast überall fremd, dock liegt darin vielleicht
eben ein Grund für dessen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Volke. Wie
groß aber die Macht dieser Secte und ihrer vielfachen Abzweigungen, beweist am
besten, daß bereits vor drei Jahren ein inniger Bewunderer russischer Staatskunst,
wie der gouvernementalen Gestaltungen des russischen Volkslebens schrieb: „Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85838"/>
            <p xml:id="ID_829" prev="#ID_828"> materielles Wohlbefinden davon die Folge. Ja selbst Bewunderer der russischen<lb/>
Regierung gestehen ein, daß die Starowerzen &#x201E;im Allgemeinen einfacher, sitten¬<lb/>
reiner, nüchterner, zuverlässiger als die übrigen russischen Bauern," daß sie meistens<lb/>
&#x201E;durch eine gewisse Bildung den umwohnenden Russen weit überlegen" sind. Bei<lb/>
der für das Beispiel so empfänglichen Natur des Russen, bei dem slavischen<lb/>
Nachahmungstrieb überhaupt mußte sonach eine Ruck- und Weiterwirkung auf<lb/>
die außerhalb der Secte stehenden Bcvvlkerungsschichten eine natürliche Folge<lb/>
dieser Verhältnisse werden. Die große Achtung, welche das Starowerzenthum<lb/>
als selbständige Macht genoß, führte ihm ebenfalls immer neue Bekenner zu,<lb/>
während es der Staatskirche die ihren entfremdete. Dies um so mehr, weil<lb/>
dasselbe seine Lehren keineswegs versteinte, sondern vielmehr je nach den socialen<lb/>
und politischen Verhältnissen, nnter denen seine Bekenner ihren Sitz aufgeschlagen,<lb/>
zwar nicht veränderte, aber insofern modiftcirte, als der eine und andere Grund¬<lb/>
satz mehr in den Bordergrund tritt oder mehr zurückgeschoben wird. So ist es<lb/>
eine um sich greifende Macht unter den eigentlichen Großrussen, wie uuter den<lb/>
Kosaken, eine nationale Autorität unter den Kleinrussen geworden, und erobert<lb/>
eben in neuerer Zeit durch seine vorwiegend sociale Richtung in Süd- und<lb/>
Nenrnßland immer weitere Kreise.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_830" next="#ID_831"> Ueberblicken wir nun die Nachrichten, welche freilich sparsam ans den ver¬<lb/>
schiedenen Theilen des Ungeheuern Reiches zusammenfließen, so erscheinen zwei<lb/>
Thatsachen von höchster Wichtigkeit: die Starowerzen Großrußlands, des eigentlichen<lb/>
Moskvwiens, bilden die altkatholische nationale Opposition gegen die moderne Ge¬<lb/>
staltung des Herrschcrbegriffs, der Staatskirche und der politischen Verfassung,<lb/>
die Starowerzen der den Neichsgrenzen näher gelegenen Provinzen scheiden sich<lb/>
in unzählbare Seelen, denen zwar ebenfalls das Festhalten am altkatholischen<lb/>
Elemente der Unabhängigkeit der Kirche vom Staate, so wie der Nichtanerkenntniß<lb/>
des Czaren als Kirchenoberhaupt dogmatisch gemeinsam ist, welche aber in ihren<lb/>
praktischen Bestrebungen das Moment der socialen Opposition gegen die Stände-<lb/>
scheidnng, gegen die Leibeigenschaft, gegen die politische Bevorzugung des Adels<lb/>
vorzugsweise ausgearbeitet haben. Im Innern des Reiches, vornämlich in Moskau<lb/>
und Nowgorod (auch selbst in Petersburg) hat sich ein ziemlich enger Zusammen¬<lb/>
hang zwischen den Altgläubigen und der nationalrussischen Aristokratie herausge¬<lb/>
stellt, während in den mehr peripherischen Provinzen das Starvwcrzenwesen seine<lb/>
weiteste Verbreitung unter den Bauern, den kleinern Kaufleuten und Gewerbtrei-<lb/>
benden, kurz unter den politischen Parias fand. Die eigentliche Gelehrtenwelt,<lb/>
so wie die Beamten blieben ihm freilich fast überall fremd, dock liegt darin vielleicht<lb/>
eben ein Grund für dessen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Volke. Wie<lb/>
groß aber die Macht dieser Secte und ihrer vielfachen Abzweigungen, beweist am<lb/>
besten, daß bereits vor drei Jahren ein inniger Bewunderer russischer Staatskunst,<lb/>
wie der gouvernementalen Gestaltungen des russischen Volkslebens schrieb: &#x201E;Die</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0255] materielles Wohlbefinden davon die Folge. Ja selbst Bewunderer der russischen Regierung gestehen ein, daß die Starowerzen „im Allgemeinen einfacher, sitten¬ reiner, nüchterner, zuverlässiger als die übrigen russischen Bauern," daß sie meistens „durch eine gewisse Bildung den umwohnenden Russen weit überlegen" sind. Bei der für das Beispiel so empfänglichen Natur des Russen, bei dem slavischen Nachahmungstrieb überhaupt mußte sonach eine Ruck- und Weiterwirkung auf die außerhalb der Secte stehenden Bcvvlkerungsschichten eine natürliche Folge dieser Verhältnisse werden. Die große Achtung, welche das Starowerzenthum als selbständige Macht genoß, führte ihm ebenfalls immer neue Bekenner zu, während es der Staatskirche die ihren entfremdete. Dies um so mehr, weil dasselbe seine Lehren keineswegs versteinte, sondern vielmehr je nach den socialen und politischen Verhältnissen, nnter denen seine Bekenner ihren Sitz aufgeschlagen, zwar nicht veränderte, aber insofern modiftcirte, als der eine und andere Grund¬ satz mehr in den Bordergrund tritt oder mehr zurückgeschoben wird. So ist es eine um sich greifende Macht unter den eigentlichen Großrussen, wie uuter den Kosaken, eine nationale Autorität unter den Kleinrussen geworden, und erobert eben in neuerer Zeit durch seine vorwiegend sociale Richtung in Süd- und Nenrnßland immer weitere Kreise. Ueberblicken wir nun die Nachrichten, welche freilich sparsam ans den ver¬ schiedenen Theilen des Ungeheuern Reiches zusammenfließen, so erscheinen zwei Thatsachen von höchster Wichtigkeit: die Starowerzen Großrußlands, des eigentlichen Moskvwiens, bilden die altkatholische nationale Opposition gegen die moderne Ge¬ staltung des Herrschcrbegriffs, der Staatskirche und der politischen Verfassung, die Starowerzen der den Neichsgrenzen näher gelegenen Provinzen scheiden sich in unzählbare Seelen, denen zwar ebenfalls das Festhalten am altkatholischen Elemente der Unabhängigkeit der Kirche vom Staate, so wie der Nichtanerkenntniß des Czaren als Kirchenoberhaupt dogmatisch gemeinsam ist, welche aber in ihren praktischen Bestrebungen das Moment der socialen Opposition gegen die Stände- scheidnng, gegen die Leibeigenschaft, gegen die politische Bevorzugung des Adels vorzugsweise ausgearbeitet haben. Im Innern des Reiches, vornämlich in Moskau und Nowgorod (auch selbst in Petersburg) hat sich ein ziemlich enger Zusammen¬ hang zwischen den Altgläubigen und der nationalrussischen Aristokratie herausge¬ stellt, während in den mehr peripherischen Provinzen das Starvwcrzenwesen seine weiteste Verbreitung unter den Bauern, den kleinern Kaufleuten und Gewerbtrei- benden, kurz unter den politischen Parias fand. Die eigentliche Gelehrtenwelt, so wie die Beamten blieben ihm freilich fast überall fremd, dock liegt darin vielleicht eben ein Grund für dessen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Volke. Wie groß aber die Macht dieser Secte und ihrer vielfachen Abzweigungen, beweist am besten, daß bereits vor drei Jahren ein inniger Bewunderer russischer Staatskunst, wie der gouvernementalen Gestaltungen des russischen Volkslebens schrieb: „Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/255
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/255>, abgerufen am 27.07.2024.