Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.Ein Ketzer, auch in politischen Dingen, wird unaufhörlich von dem Gespenst Ich darf nicht erst daran erinnern, wie diese souveräne, capriciöse, inhalt- In dem Jahr des Heils 48 hatte das souveräne Berlin Gelegenheit, seiner 28*
Ein Ketzer, auch in politischen Dingen, wird unaufhörlich von dem Gespenst Ich darf nicht erst daran erinnern, wie diese souveräne, capriciöse, inhalt- In dem Jahr des Heils 48 hatte das souveräne Berlin Gelegenheit, seiner 28*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0227" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85810"/> <p xml:id="ID_754"> Ein Ketzer, auch in politischen Dingen, wird unaufhörlich von dem Gespenst<lb/> der Vorstellungen, die er im Princip überwunden zu haben glaubt, verfolgt. So<lb/> wie diese „Freien" in ihrer theologischen Periode in den unschuldigsten Aeuße-<lb/> rungen Spuren von Religiosität witterten und mit leidenschaftlicher Wuth über<lb/> diese Spuren herfielen, so ging es ihnen jetzt mit dem Staat und seinem con-<lb/> creten Ausdruck, dem Bürgerthum. Arier Bürgerthum verstanden sie die Masse<lb/> der Philister, durch welche der Genius unterdrückt würde; unter Staat die Form,<lb/> welche sich diese gedankenlose Masse zu geben wisse. Sie befreiten sich von der¬<lb/> selben theils durch Kritik ihrer einzelnen Erscheinungen, namentlich der con-<lb/> stitutionellen Kammer», wo sie dann meinten, mit dem Wesen des constitutionellen<lb/> Staats fertig zu sein, wenn sie einen Widerspruch in demselben nachwiesen, was<lb/> eigentlich von Schülern Hegels sehr gedankenlos war. Denn die Forderung der<lb/> Widerspruchlosigkeit in der idealen Staatsform sagt eigentlich nichts andres, als<lb/> daß man sein Ideal in einem Petrefact sucht, während der Staat doch nur die<lb/> dialektische Methode sein kauu, in welcher sich der Entwickelungsproceß der Cultur<lb/> mit Ordnung und Verstand vollzieht. Wenn sich also Edgar Bauer über die<lb/> Kritik selber dahin ausspricht: „Man werfe uns nicht vor, daß die Kritik eine<lb/> Freude daran habe, Alles zu verwirren und ans geordnetem Weltzustände ein<lb/> Chaos zu machen. Sie hat vielmehr die undankbare Arbeit, -aufzuzeigen, wie<lb/> unklar,, wirr und chaotisch noch Alles ist. — Und wenn sie sich auch nicht das<lb/> Recht der Geschichte anmaßt, die Frage zu beantworten: was soll denn aber am<lb/> Ende werden? so antwortet sie doch ans die Frage: Ist dieses, was sich mit seiner<lb/> Existenz so breit macht, Werth, daß es existire? Und das ist genng. — Jeder hat<lb/> Etwas, woran er im Leben, in der Politik festhält, weil er es für das Höchste<lb/> und Absolute hält. — Wir haben die Kritik, die, selber Nichts, aus jedem Etwas,<lb/> das für sich das Recht des Absoluten in Anspruch nehmen möchte, ein Nichts zu<lb/> machen weiß." — so spricht er sich damit so vollständig selber sein Urtheil, daß<lb/> wir nichts weiter hinzuzufügen haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_755"> Ich darf nicht erst daran erinnern, wie diese souveräne, capriciöse, inhalt-<lb/> und grundsatzlose Kritik dem specifischen Berlinerthnm entspricht. Ergänzt wurde<lb/> diese Befreiung des genialen Einzelnen von dem Druck allgemeiner Gedanken durch<lb/> lyrische Stoßseufzer, wie zu der Zeit der Stürmer und Dränger und der schönen<lb/> Seelen. Das seiner Zeit vielgelesene Buch von Max Stirner: „Der Einzige<lb/> und sein Eigenthum" ist nichts als der dithyrambisch ausgeführte Stoßseufzer einer<lb/> schönen Seele, die sich über die Eintönigkeit des Philisterlebens, der Geschichte<lb/> und des zweckmäßigen Arbeitens ennuyirt.</p><lb/> <p xml:id="ID_756" next="#ID_757"> In dem Jahr des Heils 48 hatte das souveräne Berlin Gelegenheit, seiner<lb/> Sehnsucht, die sich bis dahin in einsamer Bierstube hatte verzehren müssen, auf<lb/> der Gasse Luft zu machen. Es hat sich in dieser Zeit ausgetobt, und sein chao-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 28*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0227]
Ein Ketzer, auch in politischen Dingen, wird unaufhörlich von dem Gespenst
der Vorstellungen, die er im Princip überwunden zu haben glaubt, verfolgt. So
wie diese „Freien" in ihrer theologischen Periode in den unschuldigsten Aeuße-
rungen Spuren von Religiosität witterten und mit leidenschaftlicher Wuth über
diese Spuren herfielen, so ging es ihnen jetzt mit dem Staat und seinem con-
creten Ausdruck, dem Bürgerthum. Arier Bürgerthum verstanden sie die Masse
der Philister, durch welche der Genius unterdrückt würde; unter Staat die Form,
welche sich diese gedankenlose Masse zu geben wisse. Sie befreiten sich von der¬
selben theils durch Kritik ihrer einzelnen Erscheinungen, namentlich der con-
stitutionellen Kammer», wo sie dann meinten, mit dem Wesen des constitutionellen
Staats fertig zu sein, wenn sie einen Widerspruch in demselben nachwiesen, was
eigentlich von Schülern Hegels sehr gedankenlos war. Denn die Forderung der
Widerspruchlosigkeit in der idealen Staatsform sagt eigentlich nichts andres, als
daß man sein Ideal in einem Petrefact sucht, während der Staat doch nur die
dialektische Methode sein kauu, in welcher sich der Entwickelungsproceß der Cultur
mit Ordnung und Verstand vollzieht. Wenn sich also Edgar Bauer über die
Kritik selber dahin ausspricht: „Man werfe uns nicht vor, daß die Kritik eine
Freude daran habe, Alles zu verwirren und ans geordnetem Weltzustände ein
Chaos zu machen. Sie hat vielmehr die undankbare Arbeit, -aufzuzeigen, wie
unklar,, wirr und chaotisch noch Alles ist. — Und wenn sie sich auch nicht das
Recht der Geschichte anmaßt, die Frage zu beantworten: was soll denn aber am
Ende werden? so antwortet sie doch ans die Frage: Ist dieses, was sich mit seiner
Existenz so breit macht, Werth, daß es existire? Und das ist genng. — Jeder hat
Etwas, woran er im Leben, in der Politik festhält, weil er es für das Höchste
und Absolute hält. — Wir haben die Kritik, die, selber Nichts, aus jedem Etwas,
das für sich das Recht des Absoluten in Anspruch nehmen möchte, ein Nichts zu
machen weiß." — so spricht er sich damit so vollständig selber sein Urtheil, daß
wir nichts weiter hinzuzufügen haben.
Ich darf nicht erst daran erinnern, wie diese souveräne, capriciöse, inhalt-
und grundsatzlose Kritik dem specifischen Berlinerthnm entspricht. Ergänzt wurde
diese Befreiung des genialen Einzelnen von dem Druck allgemeiner Gedanken durch
lyrische Stoßseufzer, wie zu der Zeit der Stürmer und Dränger und der schönen
Seelen. Das seiner Zeit vielgelesene Buch von Max Stirner: „Der Einzige
und sein Eigenthum" ist nichts als der dithyrambisch ausgeführte Stoßseufzer einer
schönen Seele, die sich über die Eintönigkeit des Philisterlebens, der Geschichte
und des zweckmäßigen Arbeitens ennuyirt.
In dem Jahr des Heils 48 hatte das souveräne Berlin Gelegenheit, seiner
Sehnsucht, die sich bis dahin in einsamer Bierstube hatte verzehren müssen, auf
der Gasse Luft zu machen. Es hat sich in dieser Zeit ausgetobt, und sein chao-
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