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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Menschen eine Gesellschaft ohne alle Ordnung, ohne allen Ausdruck des gemeinen
Willens, d. h. ohne Regierung, denken? so genügt diese genetische Erklärung
keineswegs. Man muß der Verwirrung weiter nachgehen.

Der Ursprung jener seltsamen Theorien ist ein doppelter. Einmal eine po¬
litische Sophistik, deren Entwickelung sich an die neueste deutsche Philosophie an¬
knüpft, dann ein national-ökonomisches System, das altenglische von Adam Smith,
das bei der doctrinären Richtung der Zeit seine Konsequenzen ans weitere Gebiete
ausgedehnt hat.

In den vorzüglichsten Mitarbeitern des besprochenen Blattes, Faucher und
Prince-Smith, sind diese Richtungen repräsentirt. -- Wir wollen die zweite zu¬
nächst betrachten.

Adam Smith ist es keineswegs um eine vollständige Theorie des Staats zu
thun gewesen. Man kann gegen die indirecten Steuern und gegen die Zölle
sein, und doch dem Staat einen großen Spielraum auch in Beziehung auf die
productive Thätigkeit des Volks einräumen. Der Grundsatz der progressiven
Vermögens - und Grundsteuer, durch den man in der Regel jenen Ausfall ergänzt,
ist sogar in weiterem Sinn ein svcialistischcr.

Aber allerdings hängt er mit einem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz
zusammen. Der Freihandel, allgemein eingeführt, würde, abgesehen von seinem
Einfluß auf den Nationalwohlstand, den wir hier ganz bei Seite lassen können,
die Scheidung der Volksinteressen und damit die individuelle Energie der Staaten
mehr und mehr ausheben. In diesem Sinn ist die Agitation Richard Cobden's,
wie es ja auch in den freilich etwas theatralisch gehaltenen Friedenscongressen den
äußern Anschein gewinnt, eine kosmopolitische.

Um so mehr mußte die Frcihandelspartei in Deutschland diese Richtung
nehmen, als die ihr entgegengesetzte, die Partei der Schutzzölle, seit List ihre
Theorie vorzüglich auf die Auffassung der deutschen Nation als einer Indi¬
vidualität basirte. Die Freihandelspartei wurde autinational, weniger um ihres
Zwecks willen, als um die Gründe ihrer Gegner zu bekämpfen.

Ungefähr aus demselben Standpunkt war die von der Hegel'schen Philosophie
inficirte politische Doctrin angekommen. Arnold Ruge zersetzte den Begriff des
specifischen Patriotismus, des Patriotismus, welcher sich ans die nationale Einheit
bezog; die Berliner Schule, die Bauer, Buhl, Stirner, Jungnitz u. s. w., deu
Begriff des constitutionellen Staates, wie sie es nannte, eigentlich den des
Nepräsentativsystems. Beide Begriffe, die der liberalen Partei noch immer als
Ideal vorschwebten, wurden nicht nur als ungenügend für ein letztes Resultat,
sondern geradezu als Momente der "bürgerlichen" Reaction gegen den Fortschritt
der Freiheit bezeichnet. Der Glaube an das Vaterland, der Glaube an den
Staat sollte als letzter Rest des alten Aberglaubens aus dem Herzen gerissen
werden.


Menschen eine Gesellschaft ohne alle Ordnung, ohne allen Ausdruck des gemeinen
Willens, d. h. ohne Regierung, denken? so genügt diese genetische Erklärung
keineswegs. Man muß der Verwirrung weiter nachgehen.

Der Ursprung jener seltsamen Theorien ist ein doppelter. Einmal eine po¬
litische Sophistik, deren Entwickelung sich an die neueste deutsche Philosophie an¬
knüpft, dann ein national-ökonomisches System, das altenglische von Adam Smith,
das bei der doctrinären Richtung der Zeit seine Konsequenzen ans weitere Gebiete
ausgedehnt hat.

In den vorzüglichsten Mitarbeitern des besprochenen Blattes, Faucher und
Prince-Smith, sind diese Richtungen repräsentirt. — Wir wollen die zweite zu¬
nächst betrachten.

Adam Smith ist es keineswegs um eine vollständige Theorie des Staats zu
thun gewesen. Man kann gegen die indirecten Steuern und gegen die Zölle
sein, und doch dem Staat einen großen Spielraum auch in Beziehung auf die
productive Thätigkeit des Volks einräumen. Der Grundsatz der progressiven
Vermögens - und Grundsteuer, durch den man in der Regel jenen Ausfall ergänzt,
ist sogar in weiterem Sinn ein svcialistischcr.

Aber allerdings hängt er mit einem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz
zusammen. Der Freihandel, allgemein eingeführt, würde, abgesehen von seinem
Einfluß auf den Nationalwohlstand, den wir hier ganz bei Seite lassen können,
die Scheidung der Volksinteressen und damit die individuelle Energie der Staaten
mehr und mehr ausheben. In diesem Sinn ist die Agitation Richard Cobden's,
wie es ja auch in den freilich etwas theatralisch gehaltenen Friedenscongressen den
äußern Anschein gewinnt, eine kosmopolitische.

Um so mehr mußte die Frcihandelspartei in Deutschland diese Richtung
nehmen, als die ihr entgegengesetzte, die Partei der Schutzzölle, seit List ihre
Theorie vorzüglich auf die Auffassung der deutschen Nation als einer Indi¬
vidualität basirte. Die Freihandelspartei wurde autinational, weniger um ihres
Zwecks willen, als um die Gründe ihrer Gegner zu bekämpfen.

Ungefähr aus demselben Standpunkt war die von der Hegel'schen Philosophie
inficirte politische Doctrin angekommen. Arnold Ruge zersetzte den Begriff des
specifischen Patriotismus, des Patriotismus, welcher sich ans die nationale Einheit
bezog; die Berliner Schule, die Bauer, Buhl, Stirner, Jungnitz u. s. w., deu
Begriff des constitutionellen Staates, wie sie es nannte, eigentlich den des
Nepräsentativsystems. Beide Begriffe, die der liberalen Partei noch immer als
Ideal vorschwebten, wurden nicht nur als ungenügend für ein letztes Resultat,
sondern geradezu als Momente der „bürgerlichen" Reaction gegen den Fortschritt
der Freiheit bezeichnet. Der Glaube an das Vaterland, der Glaube an den
Staat sollte als letzter Rest des alten Aberglaubens aus dem Herzen gerissen
werden.


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[0226] Menschen eine Gesellschaft ohne alle Ordnung, ohne allen Ausdruck des gemeinen Willens, d. h. ohne Regierung, denken? so genügt diese genetische Erklärung keineswegs. Man muß der Verwirrung weiter nachgehen. Der Ursprung jener seltsamen Theorien ist ein doppelter. Einmal eine po¬ litische Sophistik, deren Entwickelung sich an die neueste deutsche Philosophie an¬ knüpft, dann ein national-ökonomisches System, das altenglische von Adam Smith, das bei der doctrinären Richtung der Zeit seine Konsequenzen ans weitere Gebiete ausgedehnt hat. In den vorzüglichsten Mitarbeitern des besprochenen Blattes, Faucher und Prince-Smith, sind diese Richtungen repräsentirt. — Wir wollen die zweite zu¬ nächst betrachten. Adam Smith ist es keineswegs um eine vollständige Theorie des Staats zu thun gewesen. Man kann gegen die indirecten Steuern und gegen die Zölle sein, und doch dem Staat einen großen Spielraum auch in Beziehung auf die productive Thätigkeit des Volks einräumen. Der Grundsatz der progressiven Vermögens - und Grundsteuer, durch den man in der Regel jenen Ausfall ergänzt, ist sogar in weiterem Sinn ein svcialistischcr. Aber allerdings hängt er mit einem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz zusammen. Der Freihandel, allgemein eingeführt, würde, abgesehen von seinem Einfluß auf den Nationalwohlstand, den wir hier ganz bei Seite lassen können, die Scheidung der Volksinteressen und damit die individuelle Energie der Staaten mehr und mehr ausheben. In diesem Sinn ist die Agitation Richard Cobden's, wie es ja auch in den freilich etwas theatralisch gehaltenen Friedenscongressen den äußern Anschein gewinnt, eine kosmopolitische. Um so mehr mußte die Frcihandelspartei in Deutschland diese Richtung nehmen, als die ihr entgegengesetzte, die Partei der Schutzzölle, seit List ihre Theorie vorzüglich auf die Auffassung der deutschen Nation als einer Indi¬ vidualität basirte. Die Freihandelspartei wurde autinational, weniger um ihres Zwecks willen, als um die Gründe ihrer Gegner zu bekämpfen. Ungefähr aus demselben Standpunkt war die von der Hegel'schen Philosophie inficirte politische Doctrin angekommen. Arnold Ruge zersetzte den Begriff des specifischen Patriotismus, des Patriotismus, welcher sich ans die nationale Einheit bezog; die Berliner Schule, die Bauer, Buhl, Stirner, Jungnitz u. s. w., deu Begriff des constitutionellen Staates, wie sie es nannte, eigentlich den des Nepräsentativsystems. Beide Begriffe, die der liberalen Partei noch immer als Ideal vorschwebten, wurden nicht nur als ungenügend für ein letztes Resultat, sondern geradezu als Momente der „bürgerlichen" Reaction gegen den Fortschritt der Freiheit bezeichnet. Der Glaube an das Vaterland, der Glaube an den Staat sollte als letzter Rest des alten Aberglaubens aus dem Herzen gerissen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/226>, abgerufen am 01.09.2024.