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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Die zweite Richtung, die socialistische, geht nicht von dem souveränen
Willen des Volks aus, sondern von seinem Wohl. Zweck und Aufgabe deö
Staats ist nach ihr das höchste materielle und geistige Wohl aller Individuen,
die in ihm enthalten sind. Jeder Staat, der dieses Ziel nicht erreicht, ist'ein
Staat des Unrechts; ein Staat, in dem es noch Arme nud Hilfsbedürftige gibt,
verdient nicht zu leben. Der Staat soll die Vorsehung sein, die keinen Sper¬
ling umkommen läßt. -- Es kommt nicht weiter darauf an, wie sich der Socia-
lismus diesen Staat, diese Organisation der Arbeit denkt; er ist zunächst nichts
als ein Feldgeschrei, ein Aufruf an alle Mißvergnügte,,, den Staat zu zwingen,
daß er alle Thränen trockne, jeden Wunsch des Herzens erfülle.

Es ist nicht nothwcndig, daß der Socialismus mit der Demokratie Hand in
Hand geht. Wenn der Socialismus glaubt, durch einen Ban von Unten ans
den Staat so organisiren zu können, daß er seinen Bedürfnissen am besten ent¬
spricht, so wird er eine demokratische Färbung annehmen; er kann aber ebensogut
der entgegengesetzten Ueberzeugung sein, und dem höhern Verstand eines Auser-
wählten, eines Dictators oder Propheten, die zweckmäßigste Leitung der Gesell¬
schaft übertragen. Denn der Glaube, daß ein Volk am besten für sein eigenes
Wohl sorgen wird, gehört keineswegs zum Wesen des Socialismus.

Die dritte Richtung nun, diejenige, welche die Abeudpost vertritt, -- ich will
sie die anarchistische nennen, -- ist den beiden vorigen diametral entgegenge¬
setzt. Der Demokratie: denn sie findet in der Herrschaft der Majorität über die
Minorität eine ebensogroße Tyrannei, als in der Herrschaft des absoluten Königs
über seiue Unterthanen; dem Socialismus: denn sie findet in einem Collectiv-
begrifs, wie er in dem Worte Staat liegt, die wenigste Fähigkeit, ans eine zweck¬
mäßige Weise das Interesse der Einzelnen wahrzunehmen. Die Demokratie wie
der Socialismus wollen Alles für das Volk gethan haben, aber Alles durch den
Staat, mögen sie denselben auch mit dein Volk identificiren; die Partei der un¬
beschränkten Freiheit dagegen findet, daß gerade der Staat, er möge monarchisch
oder demokratisch sein, durch seine beständige Einmischung Alles verdirbt, und daß
man für das Wohl der Menschen am besten sorgt, wenn man ihm eine Function
nach der andern entzieht, und ihn auf diese Weise endlich -- aufhebt.

Man erschrecke nicht von vornherein über die Paradoxie dieses Satzes. So
lange man von der Vorstellung ausgeht, die bei sämmtlichen unserer Staats¬
künstler im Stillen vorherrscht, daß auf der einen Seite der Staat stehe (oder
das Volk, oder die Gesammtheit, oder die Gesellschaft, das bleibt sich ganz gleich),
auf der andern die Einzelnen, so wird ein allmäliges Entziehen der Macht des
einen Begriffs zu Gunsten des andern wohl denkbar sein, und mit dem Aufhören
aller Macht ist das Aufhören der Existenz mit logischer Notwendigkeit verknüpft.

In diesem Sinn ist die Genesis des Satzes: Anarchie ist die beste Regie-
rungsform, zu verstehen. Wenn man freilich fragt: wie können sich verständige


Grcnzbote". III. ISöO. 28

Die zweite Richtung, die socialistische, geht nicht von dem souveränen
Willen des Volks aus, sondern von seinem Wohl. Zweck und Aufgabe deö
Staats ist nach ihr das höchste materielle und geistige Wohl aller Individuen,
die in ihm enthalten sind. Jeder Staat, der dieses Ziel nicht erreicht, ist'ein
Staat des Unrechts; ein Staat, in dem es noch Arme nud Hilfsbedürftige gibt,
verdient nicht zu leben. Der Staat soll die Vorsehung sein, die keinen Sper¬
ling umkommen läßt. — Es kommt nicht weiter darauf an, wie sich der Socia-
lismus diesen Staat, diese Organisation der Arbeit denkt; er ist zunächst nichts
als ein Feldgeschrei, ein Aufruf an alle Mißvergnügte,,, den Staat zu zwingen,
daß er alle Thränen trockne, jeden Wunsch des Herzens erfülle.

Es ist nicht nothwcndig, daß der Socialismus mit der Demokratie Hand in
Hand geht. Wenn der Socialismus glaubt, durch einen Ban von Unten ans
den Staat so organisiren zu können, daß er seinen Bedürfnissen am besten ent¬
spricht, so wird er eine demokratische Färbung annehmen; er kann aber ebensogut
der entgegengesetzten Ueberzeugung sein, und dem höhern Verstand eines Auser-
wählten, eines Dictators oder Propheten, die zweckmäßigste Leitung der Gesell¬
schaft übertragen. Denn der Glaube, daß ein Volk am besten für sein eigenes
Wohl sorgen wird, gehört keineswegs zum Wesen des Socialismus.

Die dritte Richtung nun, diejenige, welche die Abeudpost vertritt, — ich will
sie die anarchistische nennen, — ist den beiden vorigen diametral entgegenge¬
setzt. Der Demokratie: denn sie findet in der Herrschaft der Majorität über die
Minorität eine ebensogroße Tyrannei, als in der Herrschaft des absoluten Königs
über seiue Unterthanen; dem Socialismus: denn sie findet in einem Collectiv-
begrifs, wie er in dem Worte Staat liegt, die wenigste Fähigkeit, ans eine zweck¬
mäßige Weise das Interesse der Einzelnen wahrzunehmen. Die Demokratie wie
der Socialismus wollen Alles für das Volk gethan haben, aber Alles durch den
Staat, mögen sie denselben auch mit dein Volk identificiren; die Partei der un¬
beschränkten Freiheit dagegen findet, daß gerade der Staat, er möge monarchisch
oder demokratisch sein, durch seine beständige Einmischung Alles verdirbt, und daß
man für das Wohl der Menschen am besten sorgt, wenn man ihm eine Function
nach der andern entzieht, und ihn auf diese Weise endlich — aufhebt.

Man erschrecke nicht von vornherein über die Paradoxie dieses Satzes. So
lange man von der Vorstellung ausgeht, die bei sämmtlichen unserer Staats¬
künstler im Stillen vorherrscht, daß auf der einen Seite der Staat stehe (oder
das Volk, oder die Gesammtheit, oder die Gesellschaft, das bleibt sich ganz gleich),
auf der andern die Einzelnen, so wird ein allmäliges Entziehen der Macht des
einen Begriffs zu Gunsten des andern wohl denkbar sein, und mit dem Aufhören
aller Macht ist das Aufhören der Existenz mit logischer Notwendigkeit verknüpft.

In diesem Sinn ist die Genesis des Satzes: Anarchie ist die beste Regie-
rungsform, zu verstehen. Wenn man freilich fragt: wie können sich verständige


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[0225] Die zweite Richtung, die socialistische, geht nicht von dem souveränen Willen des Volks aus, sondern von seinem Wohl. Zweck und Aufgabe deö Staats ist nach ihr das höchste materielle und geistige Wohl aller Individuen, die in ihm enthalten sind. Jeder Staat, der dieses Ziel nicht erreicht, ist'ein Staat des Unrechts; ein Staat, in dem es noch Arme nud Hilfsbedürftige gibt, verdient nicht zu leben. Der Staat soll die Vorsehung sein, die keinen Sper¬ ling umkommen läßt. — Es kommt nicht weiter darauf an, wie sich der Socia- lismus diesen Staat, diese Organisation der Arbeit denkt; er ist zunächst nichts als ein Feldgeschrei, ein Aufruf an alle Mißvergnügte,,, den Staat zu zwingen, daß er alle Thränen trockne, jeden Wunsch des Herzens erfülle. Es ist nicht nothwcndig, daß der Socialismus mit der Demokratie Hand in Hand geht. Wenn der Socialismus glaubt, durch einen Ban von Unten ans den Staat so organisiren zu können, daß er seinen Bedürfnissen am besten ent¬ spricht, so wird er eine demokratische Färbung annehmen; er kann aber ebensogut der entgegengesetzten Ueberzeugung sein, und dem höhern Verstand eines Auser- wählten, eines Dictators oder Propheten, die zweckmäßigste Leitung der Gesell¬ schaft übertragen. Denn der Glaube, daß ein Volk am besten für sein eigenes Wohl sorgen wird, gehört keineswegs zum Wesen des Socialismus. Die dritte Richtung nun, diejenige, welche die Abeudpost vertritt, — ich will sie die anarchistische nennen, — ist den beiden vorigen diametral entgegenge¬ setzt. Der Demokratie: denn sie findet in der Herrschaft der Majorität über die Minorität eine ebensogroße Tyrannei, als in der Herrschaft des absoluten Königs über seiue Unterthanen; dem Socialismus: denn sie findet in einem Collectiv- begrifs, wie er in dem Worte Staat liegt, die wenigste Fähigkeit, ans eine zweck¬ mäßige Weise das Interesse der Einzelnen wahrzunehmen. Die Demokratie wie der Socialismus wollen Alles für das Volk gethan haben, aber Alles durch den Staat, mögen sie denselben auch mit dein Volk identificiren; die Partei der un¬ beschränkten Freiheit dagegen findet, daß gerade der Staat, er möge monarchisch oder demokratisch sein, durch seine beständige Einmischung Alles verdirbt, und daß man für das Wohl der Menschen am besten sorgt, wenn man ihm eine Function nach der andern entzieht, und ihn auf diese Weise endlich — aufhebt. Man erschrecke nicht von vornherein über die Paradoxie dieses Satzes. So lange man von der Vorstellung ausgeht, die bei sämmtlichen unserer Staats¬ künstler im Stillen vorherrscht, daß auf der einen Seite der Staat stehe (oder das Volk, oder die Gesammtheit, oder die Gesellschaft, das bleibt sich ganz gleich), auf der andern die Einzelnen, so wird ein allmäliges Entziehen der Macht des einen Begriffs zu Gunsten des andern wohl denkbar sein, und mit dem Aufhören aller Macht ist das Aufhören der Existenz mit logischer Notwendigkeit verknüpft. In diesem Sinn ist die Genesis des Satzes: Anarchie ist die beste Regie- rungsform, zu verstehen. Wenn man freilich fragt: wie können sich verständige Grcnzbote». III. ISöO. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/225>, abgerufen am 01.09.2024.