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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Ideen nnr überfirnißten, vor Allem der germanische Wandertrieb, der sich in den
Bekehrungsfahrten nach Grönland, Otaheiti, die Sandwüsten Afrikas und die
Steppen Hochasiens nicht minder ausspricht, als in den Kreuzfahrten oder den
abentheuerlichen Wanderungen in die neue Welt. Allein das Christenthum hat
diesen Zügen doch erst die angemessene Form gegeben; die Kreuzfahrer wollten
das heilige Grab erobern, Columbus in Indien die Schatze finden, eine neue
Expedition nach Jerusalem zu Staude zu bringen; die Puritaner suchten in den
Urwäldern eine Stätte für das neue Reich der Heiligen, und noch die Herren
V. Chateaubriand und v. Lamartine betrachteten sich als fromme Pilger, die mit
dem Muschelhut und den Sandelschnhen nach dem Oelbergs zogen, um die Fu߬
tapfen des Erlösers zu küssen.

Der Grund dieser fortdauernden Expansivkraft liegt in dem Zusammentreffen
zweier Eigenschaften, die in einem scheinbaren Widerspruch zu einander stehen.
Einmal muthet keine Religion dem Menschen so viel neue und unerhörte Dinge
zu, ans die er dem Anschein nach unmöglich selbst gekommen sein kann, und die
ihn daher über den hohem, jenseitigen Ursprung seines Glaubens außer Zweife^
setzen. Andrerseits regt keine das menschliche Gemüth und die menschliche Spe¬
kulation so energisch zur SelbsttlMgkeit an.

Der Mittelpunkt des Christenthums ist die Lehre, daß die Welt an sich eine
verkehrte sei, die frohe Botschaft, daß sie durch ein wunderbares Factum ihre
Erlösung gefunden habe, und die Aufforderung an jeden Einzelnen, diesen
Erlösnngsprvzcß nach dem einmal gegebenen Vorbilde in sich zu reproduciren.
In andern Religionen, z. B. dem Islam, ist das Paradies nichts andres,
als die Erfüllung der irdischen Begierden und Leidenschaften, die Natur wird nur
herabgesetzt, um augenblicklich durch eine höhere Autorität wieder rehabilitirt zu
werde". Eine solche Religion kann nur in einer kurzen Zeit des Fanatismus
den Trieb fühlen, sich auszubreiten, denn sobald dieser vorüber ist, hört sie ans,
sich im realen Gegensatz gegen die Welt und deren Geist zu fühlen, und der Einzelne
kann nicht weiter daran denken, in Bezug auf die Vermittelung des wahren
Glaubens mit ^der gewöhnlichen Vernunft productiv zu sein, eben weil dieser
Glaube zu einfach und zu abstract an ihn herantritt. In andern Religionen
wieder ist die Vermittelung der idealen und der realen Welt so complicirt, so
wenig in große, bedeutende, dem Gemüth geläufige Züge zusammengedrängt,
daß die Willkühr hinlänglichen Boden hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen. An
eine Verbreitung unter die Ungläubigen kann sie nicht denken, weil sie keinen Weg
des Verständnisses findet. So ist es in Indien.

Der christliche Missionär, der rechtgläubige nämlich, tritt einmal mit der ganzen
Sicherheit und Ueberzeugung auf, die ein äußerlich beglaubigter, ein höhern
Orts legitimirrer Auftrag verleiht. Er spricht im Namen eines allmächtigen Sou-
verains, der jedes Haar aus dem Haupte seiner Gläubigen zählt. Er kann den


Ideen nnr überfirnißten, vor Allem der germanische Wandertrieb, der sich in den
Bekehrungsfahrten nach Grönland, Otaheiti, die Sandwüsten Afrikas und die
Steppen Hochasiens nicht minder ausspricht, als in den Kreuzfahrten oder den
abentheuerlichen Wanderungen in die neue Welt. Allein das Christenthum hat
diesen Zügen doch erst die angemessene Form gegeben; die Kreuzfahrer wollten
das heilige Grab erobern, Columbus in Indien die Schatze finden, eine neue
Expedition nach Jerusalem zu Staude zu bringen; die Puritaner suchten in den
Urwäldern eine Stätte für das neue Reich der Heiligen, und noch die Herren
V. Chateaubriand und v. Lamartine betrachteten sich als fromme Pilger, die mit
dem Muschelhut und den Sandelschnhen nach dem Oelbergs zogen, um die Fu߬
tapfen des Erlösers zu küssen.

Der Grund dieser fortdauernden Expansivkraft liegt in dem Zusammentreffen
zweier Eigenschaften, die in einem scheinbaren Widerspruch zu einander stehen.
Einmal muthet keine Religion dem Menschen so viel neue und unerhörte Dinge
zu, ans die er dem Anschein nach unmöglich selbst gekommen sein kann, und die
ihn daher über den hohem, jenseitigen Ursprung seines Glaubens außer Zweife^
setzen. Andrerseits regt keine das menschliche Gemüth und die menschliche Spe¬
kulation so energisch zur SelbsttlMgkeit an.

Der Mittelpunkt des Christenthums ist die Lehre, daß die Welt an sich eine
verkehrte sei, die frohe Botschaft, daß sie durch ein wunderbares Factum ihre
Erlösung gefunden habe, und die Aufforderung an jeden Einzelnen, diesen
Erlösnngsprvzcß nach dem einmal gegebenen Vorbilde in sich zu reproduciren.
In andern Religionen, z. B. dem Islam, ist das Paradies nichts andres,
als die Erfüllung der irdischen Begierden und Leidenschaften, die Natur wird nur
herabgesetzt, um augenblicklich durch eine höhere Autorität wieder rehabilitirt zu
werde». Eine solche Religion kann nur in einer kurzen Zeit des Fanatismus
den Trieb fühlen, sich auszubreiten, denn sobald dieser vorüber ist, hört sie ans,
sich im realen Gegensatz gegen die Welt und deren Geist zu fühlen, und der Einzelne
kann nicht weiter daran denken, in Bezug auf die Vermittelung des wahren
Glaubens mit ^der gewöhnlichen Vernunft productiv zu sein, eben weil dieser
Glaube zu einfach und zu abstract an ihn herantritt. In andern Religionen
wieder ist die Vermittelung der idealen und der realen Welt so complicirt, so
wenig in große, bedeutende, dem Gemüth geläufige Züge zusammengedrängt,
daß die Willkühr hinlänglichen Boden hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen. An
eine Verbreitung unter die Ungläubigen kann sie nicht denken, weil sie keinen Weg
des Verständnisses findet. So ist es in Indien.

Der christliche Missionär, der rechtgläubige nämlich, tritt einmal mit der ganzen
Sicherheit und Ueberzeugung auf, die ein äußerlich beglaubigter, ein höhern
Orts legitimirrer Auftrag verleiht. Er spricht im Namen eines allmächtigen Sou-
verains, der jedes Haar aus dem Haupte seiner Gläubigen zählt. Er kann den


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[0221] Ideen nnr überfirnißten, vor Allem der germanische Wandertrieb, der sich in den Bekehrungsfahrten nach Grönland, Otaheiti, die Sandwüsten Afrikas und die Steppen Hochasiens nicht minder ausspricht, als in den Kreuzfahrten oder den abentheuerlichen Wanderungen in die neue Welt. Allein das Christenthum hat diesen Zügen doch erst die angemessene Form gegeben; die Kreuzfahrer wollten das heilige Grab erobern, Columbus in Indien die Schatze finden, eine neue Expedition nach Jerusalem zu Staude zu bringen; die Puritaner suchten in den Urwäldern eine Stätte für das neue Reich der Heiligen, und noch die Herren V. Chateaubriand und v. Lamartine betrachteten sich als fromme Pilger, die mit dem Muschelhut und den Sandelschnhen nach dem Oelbergs zogen, um die Fu߬ tapfen des Erlösers zu küssen. Der Grund dieser fortdauernden Expansivkraft liegt in dem Zusammentreffen zweier Eigenschaften, die in einem scheinbaren Widerspruch zu einander stehen. Einmal muthet keine Religion dem Menschen so viel neue und unerhörte Dinge zu, ans die er dem Anschein nach unmöglich selbst gekommen sein kann, und die ihn daher über den hohem, jenseitigen Ursprung seines Glaubens außer Zweife^ setzen. Andrerseits regt keine das menschliche Gemüth und die menschliche Spe¬ kulation so energisch zur SelbsttlMgkeit an. Der Mittelpunkt des Christenthums ist die Lehre, daß die Welt an sich eine verkehrte sei, die frohe Botschaft, daß sie durch ein wunderbares Factum ihre Erlösung gefunden habe, und die Aufforderung an jeden Einzelnen, diesen Erlösnngsprvzcß nach dem einmal gegebenen Vorbilde in sich zu reproduciren. In andern Religionen, z. B. dem Islam, ist das Paradies nichts andres, als die Erfüllung der irdischen Begierden und Leidenschaften, die Natur wird nur herabgesetzt, um augenblicklich durch eine höhere Autorität wieder rehabilitirt zu werde». Eine solche Religion kann nur in einer kurzen Zeit des Fanatismus den Trieb fühlen, sich auszubreiten, denn sobald dieser vorüber ist, hört sie ans, sich im realen Gegensatz gegen die Welt und deren Geist zu fühlen, und der Einzelne kann nicht weiter daran denken, in Bezug auf die Vermittelung des wahren Glaubens mit ^der gewöhnlichen Vernunft productiv zu sein, eben weil dieser Glaube zu einfach und zu abstract an ihn herantritt. In andern Religionen wieder ist die Vermittelung der idealen und der realen Welt so complicirt, so wenig in große, bedeutende, dem Gemüth geläufige Züge zusammengedrängt, daß die Willkühr hinlänglichen Boden hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen. An eine Verbreitung unter die Ungläubigen kann sie nicht denken, weil sie keinen Weg des Verständnisses findet. So ist es in Indien. Der christliche Missionär, der rechtgläubige nämlich, tritt einmal mit der ganzen Sicherheit und Ueberzeugung auf, die ein äußerlich beglaubigter, ein höhern Orts legitimirrer Auftrag verleiht. Er spricht im Namen eines allmächtigen Sou- verains, der jedes Haar aus dem Haupte seiner Gläubigen zählt. Er kann den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/221>, abgerufen am 27.07.2024.