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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Inhalt seines Glaubens, seine frohe Botschaft, durch zahlreiche Documente und
die eigene Begeisterung bestätigen. Er ist tief durchdrungen von der Nothwen-
digkeit seiner Sendung, denn ohne sie ist die Natur dem Bösen versallen, sind
die Menschen zeitlich und ewig verdammt. Was er ihnen bringt, ist ein absolut
Neues, etwas, das ohne ihn sie nie erkennen wurden: aber er spricht nicht bloß
zu ihrer Neugierde, sondern zu ihrem Gewissen, er regt die ganze Furcht der
Holle in ihnen ans, und sie werden ihn hören müsse", wenn sie diese Furcht nicht
bereits durch eigne sittlich-religiöse Grundsätze überwunden haben. Zu solchen
Grundsätzen, die das Grauen der Furcht überwinden, fehlt es aber den heidnischen
Religionen an Stoff.

Das ist die eine Seite. Nun ist aber jene Lehre von der Sündhaftigkeit der
Welt wie von dem Wunder der Erlösung so vielfach mit geistigen Momentelt
durchflochten, es scheinen soviel allgemeine Gedanken dnrch in dem Netz von Bil¬
dern, Gleichnissen, Thatsachen und Ermahnungen, daß dem grübelnden Verstand
ein unendlicher Spielraum gelassen ist, sich in diesem Labyrinth des Geistes auf
seiue Weise zurechtzufinden. Der Katholik wird es durch scholastische For¬
meln versuchen, der Protestant wird das Rechtsbewußtsein und die ethischen Be¬
ziehungen des Gemüths zu Hilfe nehmen.*) In beiden Fällen tritt eine Dialektik
ein, das Verhältnis des Apostels zu seinen Bekehrten bleibt nicht bloß äußerlich.
Das Evangelium wird ein schönes Räthsel, dessen Wort man eigentlich nie
findet, dem man sich aber dnrch sinnige Betrachtungen nähert. Der Mensch kann
erfinderisch werden in seinem Verständniß, und das Geheimniß, das ihn lauge
beschäftigt, wird ihm eben darum werth.

Alle diese Hilfsquellen fehlen dem Nationalisten. Er kann sich nicht auf eine
höhere Autorität stützen; er kann der Welt keine unerhörten Geheimnisse offen¬
baren. Der Inhalt seines Glaubens ist nicht reich und am wenigsten anf die
Phantasie berechnet. Es ist in seinem Glauben kein Haß gegen die Mannigfal¬
tigkeit der natürlichen Entwickelungen, im Gegentheil muß er sie alle bis zu einem
gewissen Grade anerkennen; je aufgeklärter er ist, je weniger imponirt er. Zum
Rationalismus kommt jede Religion in einem gewissen Stadium ihrer Entwickelung;
die eine hat nicht nöthig, die andere zu bekehren; sie hat auch nicht die Kraft
dazu, denn wo das Gemüth nicht in Furcht und Zittern gesetzt ist, werden die
natürlichen Leidenschaften und Interessen nicht daran denken, sich einem allgemeinen
Princip zu unterwerfen.



.") Die verschiedene Beschaffenheit des katholischen und protestantischen Missionswesens
verdient eine eigne Besprechung. Vorläufig verweisen wir, des ähnlichen Gegenstandes wegen,
auf ein interessantes Buch: Souvenir 6'un vvvseo 6ans la ^ni-tai-le, Is 1'liibet el I" ciiin",
piu' Ki. Uno, pi'sei'S inissionsire 6s I" oonxrcxation 60 Le.-^a^are; auf die ^nnales 6"
nronoxation 60 I" toi (einer am 3. Mai in Lyon gegründeten, über ganz Frankreich
ausgebreitete" Missionsgesellschaft), und deren Besprechung in der Kevue 6es 6sux mon6es,
15. Juni.

Inhalt seines Glaubens, seine frohe Botschaft, durch zahlreiche Documente und
die eigene Begeisterung bestätigen. Er ist tief durchdrungen von der Nothwen-
digkeit seiner Sendung, denn ohne sie ist die Natur dem Bösen versallen, sind
die Menschen zeitlich und ewig verdammt. Was er ihnen bringt, ist ein absolut
Neues, etwas, das ohne ihn sie nie erkennen wurden: aber er spricht nicht bloß
zu ihrer Neugierde, sondern zu ihrem Gewissen, er regt die ganze Furcht der
Holle in ihnen ans, und sie werden ihn hören müsse», wenn sie diese Furcht nicht
bereits durch eigne sittlich-religiöse Grundsätze überwunden haben. Zu solchen
Grundsätzen, die das Grauen der Furcht überwinden, fehlt es aber den heidnischen
Religionen an Stoff.

Das ist die eine Seite. Nun ist aber jene Lehre von der Sündhaftigkeit der
Welt wie von dem Wunder der Erlösung so vielfach mit geistigen Momentelt
durchflochten, es scheinen soviel allgemeine Gedanken dnrch in dem Netz von Bil¬
dern, Gleichnissen, Thatsachen und Ermahnungen, daß dem grübelnden Verstand
ein unendlicher Spielraum gelassen ist, sich in diesem Labyrinth des Geistes auf
seiue Weise zurechtzufinden. Der Katholik wird es durch scholastische For¬
meln versuchen, der Protestant wird das Rechtsbewußtsein und die ethischen Be¬
ziehungen des Gemüths zu Hilfe nehmen.*) In beiden Fällen tritt eine Dialektik
ein, das Verhältnis des Apostels zu seinen Bekehrten bleibt nicht bloß äußerlich.
Das Evangelium wird ein schönes Räthsel, dessen Wort man eigentlich nie
findet, dem man sich aber dnrch sinnige Betrachtungen nähert. Der Mensch kann
erfinderisch werden in seinem Verständniß, und das Geheimniß, das ihn lauge
beschäftigt, wird ihm eben darum werth.

Alle diese Hilfsquellen fehlen dem Nationalisten. Er kann sich nicht auf eine
höhere Autorität stützen; er kann der Welt keine unerhörten Geheimnisse offen¬
baren. Der Inhalt seines Glaubens ist nicht reich und am wenigsten anf die
Phantasie berechnet. Es ist in seinem Glauben kein Haß gegen die Mannigfal¬
tigkeit der natürlichen Entwickelungen, im Gegentheil muß er sie alle bis zu einem
gewissen Grade anerkennen; je aufgeklärter er ist, je weniger imponirt er. Zum
Rationalismus kommt jede Religion in einem gewissen Stadium ihrer Entwickelung;
die eine hat nicht nöthig, die andere zu bekehren; sie hat auch nicht die Kraft
dazu, denn wo das Gemüth nicht in Furcht und Zittern gesetzt ist, werden die
natürlichen Leidenschaften und Interessen nicht daran denken, sich einem allgemeinen
Princip zu unterwerfen.



.») Die verschiedene Beschaffenheit des katholischen und protestantischen Missionswesens
verdient eine eigne Besprechung. Vorläufig verweisen wir, des ähnlichen Gegenstandes wegen,
auf ein interessantes Buch: Souvenir 6'un vvvseo 6ans la ^ni-tai-le, Is 1'liibet el I» ciiin«,
piu' Ki. Uno, pi'sei'S inissionsire 6s I» oonxrcxation 60 Le.-^a^are; auf die ^nnales 6«
nronoxation 60 I» toi (einer am 3. Mai in Lyon gegründeten, über ganz Frankreich
ausgebreitete» Missionsgesellschaft), und deren Besprechung in der Kevue 6es 6sux mon6es,
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[0222] Inhalt seines Glaubens, seine frohe Botschaft, durch zahlreiche Documente und die eigene Begeisterung bestätigen. Er ist tief durchdrungen von der Nothwen- digkeit seiner Sendung, denn ohne sie ist die Natur dem Bösen versallen, sind die Menschen zeitlich und ewig verdammt. Was er ihnen bringt, ist ein absolut Neues, etwas, das ohne ihn sie nie erkennen wurden: aber er spricht nicht bloß zu ihrer Neugierde, sondern zu ihrem Gewissen, er regt die ganze Furcht der Holle in ihnen ans, und sie werden ihn hören müsse», wenn sie diese Furcht nicht bereits durch eigne sittlich-religiöse Grundsätze überwunden haben. Zu solchen Grundsätzen, die das Grauen der Furcht überwinden, fehlt es aber den heidnischen Religionen an Stoff. Das ist die eine Seite. Nun ist aber jene Lehre von der Sündhaftigkeit der Welt wie von dem Wunder der Erlösung so vielfach mit geistigen Momentelt durchflochten, es scheinen soviel allgemeine Gedanken dnrch in dem Netz von Bil¬ dern, Gleichnissen, Thatsachen und Ermahnungen, daß dem grübelnden Verstand ein unendlicher Spielraum gelassen ist, sich in diesem Labyrinth des Geistes auf seiue Weise zurechtzufinden. Der Katholik wird es durch scholastische For¬ meln versuchen, der Protestant wird das Rechtsbewußtsein und die ethischen Be¬ ziehungen des Gemüths zu Hilfe nehmen.*) In beiden Fällen tritt eine Dialektik ein, das Verhältnis des Apostels zu seinen Bekehrten bleibt nicht bloß äußerlich. Das Evangelium wird ein schönes Räthsel, dessen Wort man eigentlich nie findet, dem man sich aber dnrch sinnige Betrachtungen nähert. Der Mensch kann erfinderisch werden in seinem Verständniß, und das Geheimniß, das ihn lauge beschäftigt, wird ihm eben darum werth. Alle diese Hilfsquellen fehlen dem Nationalisten. Er kann sich nicht auf eine höhere Autorität stützen; er kann der Welt keine unerhörten Geheimnisse offen¬ baren. Der Inhalt seines Glaubens ist nicht reich und am wenigsten anf die Phantasie berechnet. Es ist in seinem Glauben kein Haß gegen die Mannigfal¬ tigkeit der natürlichen Entwickelungen, im Gegentheil muß er sie alle bis zu einem gewissen Grade anerkennen; je aufgeklärter er ist, je weniger imponirt er. Zum Rationalismus kommt jede Religion in einem gewissen Stadium ihrer Entwickelung; die eine hat nicht nöthig, die andere zu bekehren; sie hat auch nicht die Kraft dazu, denn wo das Gemüth nicht in Furcht und Zittern gesetzt ist, werden die natürlichen Leidenschaften und Interessen nicht daran denken, sich einem allgemeinen Princip zu unterwerfen. .») Die verschiedene Beschaffenheit des katholischen und protestantischen Missionswesens verdient eine eigne Besprechung. Vorläufig verweisen wir, des ähnlichen Gegenstandes wegen, auf ein interessantes Buch: Souvenir 6'un vvvseo 6ans la ^ni-tai-le, Is 1'liibet el I» ciiin«, piu' Ki. Uno, pi'sei'S inissionsire 6s I» oonxrcxation 60 Le.-^a^are; auf die ^nnales 6« nronoxation 60 I» toi (einer am 3. Mai in Lyon gegründeten, über ganz Frankreich ausgebreitete» Missionsgesellschaft), und deren Besprechung in der Kevue 6es 6sux mon6es, 15. Juni.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/222>, abgerufen am 27.07.2024.