Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wilhelm Teil las. Das war polnische Opposition gegen russische Lieblinge, aber
es ist auch bezeichnend für die nationellen Eigenthümlichkeiten beider Stämme.

Aus dem Mangel an Sinn für dramatische Kunst entspringt der Umstand, daß
bei den Russen Talente für Schauspielkunst über alle Maßen selten sind. Was
die letzten Kaiser von Nußland auch aufgeboten haben, um durch die Theater
einen neuen Glanz für ihre Residenz zu gewinnen; es ist ihnen nicht gelungen
in der großen Nation Künstler zu gewinnen, welche mehr als nur mittel¬
mäßigen Anforderungen genügte", das Genre ausgenommen. Endlich entschloß
man sich dramatische Schulen bei dein Theater zu errichten und die Künstler zu
bilden; allein Talente können gebildet werden, aber sie werden nicht durch Dressur
herausgetrieben. Der Kaiser Nicolaus, vielmehr uoch seine Gemahlin, waren, wie
man sagt, in einer frühern Zeit über die Unfähigkeit der Russen zur Kunst der
Darstellung so ärgerlich, daß sie Kinder in Deutschland für die dramatischen
Schulen anwerben wollten. Des Kaisers Wille stieß auf Hindernisse und er be¬
gnügte sich, Kinder von deutschem Geblüt aus seinem Volke in die dramatischen
Schulen ausnehmen zu lassen. Deu Russen war das gar nicht empfindlich.

Wie die poetische Production naturgemäß der darstellenden Kunst vorangehen
muß, so kaun umgekehrt die dramatische Poesie sich gewiß keines Blühens rühmen
wo die darstellende Kunst in so großer Erbärmlichkeit darniederliegt. Es ist kaum
fünfzig Jahre her, daß man die gänzliche Unwissenschaftlichkeit der russischen Nation
zu durchbrechen bemüht gewesen ist; aber was sind fünfzig Jahre für Verbreitung
wissenschaftlicher Cultur auf einem so ungeheuren Terrain? Die Zahl der wissen¬
schaftlich Angeregten und gemüthlich Gebildeten ist sehr klein und der glückliche
Zufall, daß in dieser kleine" Zahl einmal eine geniale Natur herausspringt, kau"
nur sehr selten sein. Zudem ist ein merkwürdiger Umstand, daß auch der zu künst¬
lerischer Production sich berufen fühlende Russe fast ausschließliche epische Anlage
zeigt, von dem Genre angezogen.

Die Schwierigkeiten der Form scheinen dem Russen erschrecklich zu sein. Beim
Roman genirt ihn die Form wenig, und so werfen sie sich fast alle auf Roman
und Novellendichtnug.

Da jeder Schriftsteller wie überall im Beginn der Literatur eiues Volkes in
Rußland für ein Wunderwesen gehalten und mit Stupor beobachtet wird, so z. B.
auch der dramatische Schriftstellers Kukolnik. Er hat viel für das Theater
geschrieben, aber nichts ist so sehr an ihm zu loben, als sein Eifer nachzuahmen;
darin läßt sich ihm in der That eine große Gewandtheit nicht absprechen. Er hat
sich bald dem beliebteren Literaturgebiet der Romandichtung zugewendet, allein
hier wie dort zeigt sich eine nationale Schwäche. In jeder seiner zahllosen Ar¬
beiten fleht man zunächst, daß er sie ausgeführt, ohne sich einen Plan durchdacht
zu haben, es ist keine Organisation darin.

Kukolniks "Alf und Altona", worin wenigstens 130 Personen handelnd auf-


13*

Wilhelm Teil las. Das war polnische Opposition gegen russische Lieblinge, aber
es ist auch bezeichnend für die nationellen Eigenthümlichkeiten beider Stämme.

Aus dem Mangel an Sinn für dramatische Kunst entspringt der Umstand, daß
bei den Russen Talente für Schauspielkunst über alle Maßen selten sind. Was
die letzten Kaiser von Nußland auch aufgeboten haben, um durch die Theater
einen neuen Glanz für ihre Residenz zu gewinnen; es ist ihnen nicht gelungen
in der großen Nation Künstler zu gewinnen, welche mehr als nur mittel¬
mäßigen Anforderungen genügte», das Genre ausgenommen. Endlich entschloß
man sich dramatische Schulen bei dein Theater zu errichten und die Künstler zu
bilden; allein Talente können gebildet werden, aber sie werden nicht durch Dressur
herausgetrieben. Der Kaiser Nicolaus, vielmehr uoch seine Gemahlin, waren, wie
man sagt, in einer frühern Zeit über die Unfähigkeit der Russen zur Kunst der
Darstellung so ärgerlich, daß sie Kinder in Deutschland für die dramatischen
Schulen anwerben wollten. Des Kaisers Wille stieß auf Hindernisse und er be¬
gnügte sich, Kinder von deutschem Geblüt aus seinem Volke in die dramatischen
Schulen ausnehmen zu lassen. Deu Russen war das gar nicht empfindlich.

Wie die poetische Production naturgemäß der darstellenden Kunst vorangehen
muß, so kaun umgekehrt die dramatische Poesie sich gewiß keines Blühens rühmen
wo die darstellende Kunst in so großer Erbärmlichkeit darniederliegt. Es ist kaum
fünfzig Jahre her, daß man die gänzliche Unwissenschaftlichkeit der russischen Nation
zu durchbrechen bemüht gewesen ist; aber was sind fünfzig Jahre für Verbreitung
wissenschaftlicher Cultur auf einem so ungeheuren Terrain? Die Zahl der wissen¬
schaftlich Angeregten und gemüthlich Gebildeten ist sehr klein und der glückliche
Zufall, daß in dieser kleine» Zahl einmal eine geniale Natur herausspringt, kau»
nur sehr selten sein. Zudem ist ein merkwürdiger Umstand, daß auch der zu künst¬
lerischer Production sich berufen fühlende Russe fast ausschließliche epische Anlage
zeigt, von dem Genre angezogen.

Die Schwierigkeiten der Form scheinen dem Russen erschrecklich zu sein. Beim
Roman genirt ihn die Form wenig, und so werfen sie sich fast alle auf Roman
und Novellendichtnug.

Da jeder Schriftsteller wie überall im Beginn der Literatur eiues Volkes in
Rußland für ein Wunderwesen gehalten und mit Stupor beobachtet wird, so z. B.
auch der dramatische Schriftstellers Kukolnik. Er hat viel für das Theater
geschrieben, aber nichts ist so sehr an ihm zu loben, als sein Eifer nachzuahmen;
darin läßt sich ihm in der That eine große Gewandtheit nicht absprechen. Er hat
sich bald dem beliebteren Literaturgebiet der Romandichtung zugewendet, allein
hier wie dort zeigt sich eine nationale Schwäche. In jeder seiner zahllosen Ar¬
beiten fleht man zunächst, daß er sie ausgeführt, ohne sich einen Plan durchdacht
zu haben, es ist keine Organisation darin.

Kukolniks „Alf und Altona", worin wenigstens 130 Personen handelnd auf-


13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0107" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85690"/>
          <p xml:id="ID_373" prev="#ID_372"> Wilhelm Teil las. Das war polnische Opposition gegen russische Lieblinge, aber<lb/>
es ist auch bezeichnend für die nationellen Eigenthümlichkeiten beider Stämme.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_374"> Aus dem Mangel an Sinn für dramatische Kunst entspringt der Umstand, daß<lb/>
bei den Russen Talente für Schauspielkunst über alle Maßen selten sind. Was<lb/>
die letzten Kaiser von Nußland auch aufgeboten haben, um durch die Theater<lb/>
einen neuen Glanz für ihre Residenz zu gewinnen; es ist ihnen nicht gelungen<lb/>
in der großen Nation Künstler zu gewinnen, welche mehr als nur mittel¬<lb/>
mäßigen Anforderungen genügte», das Genre ausgenommen. Endlich entschloß<lb/>
man sich dramatische Schulen bei dein Theater zu errichten und die Künstler zu<lb/>
bilden; allein Talente können gebildet werden, aber sie werden nicht durch Dressur<lb/>
herausgetrieben. Der Kaiser Nicolaus, vielmehr uoch seine Gemahlin, waren, wie<lb/>
man sagt, in einer frühern Zeit über die Unfähigkeit der Russen zur Kunst der<lb/>
Darstellung so ärgerlich, daß sie Kinder in Deutschland für die dramatischen<lb/>
Schulen anwerben wollten. Des Kaisers Wille stieß auf Hindernisse und er be¬<lb/>
gnügte sich, Kinder von deutschem Geblüt aus seinem Volke in die dramatischen<lb/>
Schulen ausnehmen zu lassen. Deu Russen war das gar nicht empfindlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_375"> Wie die poetische Production naturgemäß der darstellenden Kunst vorangehen<lb/>
muß, so kaun umgekehrt die dramatische Poesie sich gewiß keines Blühens rühmen<lb/>
wo die darstellende Kunst in so großer Erbärmlichkeit darniederliegt. Es ist kaum<lb/>
fünfzig Jahre her, daß man die gänzliche Unwissenschaftlichkeit der russischen Nation<lb/>
zu durchbrechen bemüht gewesen ist; aber was sind fünfzig Jahre für Verbreitung<lb/>
wissenschaftlicher Cultur auf einem so ungeheuren Terrain? Die Zahl der wissen¬<lb/>
schaftlich Angeregten und gemüthlich Gebildeten ist sehr klein und der glückliche<lb/>
Zufall, daß in dieser kleine» Zahl einmal eine geniale Natur herausspringt, kau»<lb/>
nur sehr selten sein. Zudem ist ein merkwürdiger Umstand, daß auch der zu künst¬<lb/>
lerischer Production sich berufen fühlende Russe fast ausschließliche epische Anlage<lb/>
zeigt, von dem Genre angezogen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_376"> Die Schwierigkeiten der Form scheinen dem Russen erschrecklich zu sein. Beim<lb/>
Roman genirt ihn die Form wenig, und so werfen sie sich fast alle auf Roman<lb/>
und Novellendichtnug.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_377"> Da jeder Schriftsteller wie überall im Beginn der Literatur eiues Volkes in<lb/>
Rußland für ein Wunderwesen gehalten und mit Stupor beobachtet wird, so z. B.<lb/>
auch der dramatische Schriftstellers Kukolnik. Er hat viel für das Theater<lb/>
geschrieben, aber nichts ist so sehr an ihm zu loben, als sein Eifer nachzuahmen;<lb/>
darin läßt sich ihm in der That eine große Gewandtheit nicht absprechen. Er hat<lb/>
sich bald dem beliebteren Literaturgebiet der Romandichtung zugewendet, allein<lb/>
hier wie dort zeigt sich eine nationale Schwäche. In jeder seiner zahllosen Ar¬<lb/>
beiten fleht man zunächst, daß er sie ausgeführt, ohne sich einen Plan durchdacht<lb/>
zu haben, es ist keine Organisation darin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_378" next="#ID_379"> Kukolniks &#x201E;Alf und Altona", worin wenigstens 130 Personen handelnd auf-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 13*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0107] Wilhelm Teil las. Das war polnische Opposition gegen russische Lieblinge, aber es ist auch bezeichnend für die nationellen Eigenthümlichkeiten beider Stämme. Aus dem Mangel an Sinn für dramatische Kunst entspringt der Umstand, daß bei den Russen Talente für Schauspielkunst über alle Maßen selten sind. Was die letzten Kaiser von Nußland auch aufgeboten haben, um durch die Theater einen neuen Glanz für ihre Residenz zu gewinnen; es ist ihnen nicht gelungen in der großen Nation Künstler zu gewinnen, welche mehr als nur mittel¬ mäßigen Anforderungen genügte», das Genre ausgenommen. Endlich entschloß man sich dramatische Schulen bei dein Theater zu errichten und die Künstler zu bilden; allein Talente können gebildet werden, aber sie werden nicht durch Dressur herausgetrieben. Der Kaiser Nicolaus, vielmehr uoch seine Gemahlin, waren, wie man sagt, in einer frühern Zeit über die Unfähigkeit der Russen zur Kunst der Darstellung so ärgerlich, daß sie Kinder in Deutschland für die dramatischen Schulen anwerben wollten. Des Kaisers Wille stieß auf Hindernisse und er be¬ gnügte sich, Kinder von deutschem Geblüt aus seinem Volke in die dramatischen Schulen ausnehmen zu lassen. Deu Russen war das gar nicht empfindlich. Wie die poetische Production naturgemäß der darstellenden Kunst vorangehen muß, so kaun umgekehrt die dramatische Poesie sich gewiß keines Blühens rühmen wo die darstellende Kunst in so großer Erbärmlichkeit darniederliegt. Es ist kaum fünfzig Jahre her, daß man die gänzliche Unwissenschaftlichkeit der russischen Nation zu durchbrechen bemüht gewesen ist; aber was sind fünfzig Jahre für Verbreitung wissenschaftlicher Cultur auf einem so ungeheuren Terrain? Die Zahl der wissen¬ schaftlich Angeregten und gemüthlich Gebildeten ist sehr klein und der glückliche Zufall, daß in dieser kleine» Zahl einmal eine geniale Natur herausspringt, kau» nur sehr selten sein. Zudem ist ein merkwürdiger Umstand, daß auch der zu künst¬ lerischer Production sich berufen fühlende Russe fast ausschließliche epische Anlage zeigt, von dem Genre angezogen. Die Schwierigkeiten der Form scheinen dem Russen erschrecklich zu sein. Beim Roman genirt ihn die Form wenig, und so werfen sie sich fast alle auf Roman und Novellendichtnug. Da jeder Schriftsteller wie überall im Beginn der Literatur eiues Volkes in Rußland für ein Wunderwesen gehalten und mit Stupor beobachtet wird, so z. B. auch der dramatische Schriftstellers Kukolnik. Er hat viel für das Theater geschrieben, aber nichts ist so sehr an ihm zu loben, als sein Eifer nachzuahmen; darin läßt sich ihm in der That eine große Gewandtheit nicht absprechen. Er hat sich bald dem beliebteren Literaturgebiet der Romandichtung zugewendet, allein hier wie dort zeigt sich eine nationale Schwäche. In jeder seiner zahllosen Ar¬ beiten fleht man zunächst, daß er sie ausgeführt, ohne sich einen Plan durchdacht zu haben, es ist keine Organisation darin. Kukolniks „Alf und Altona", worin wenigstens 130 Personen handelnd auf- 13*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/107
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/107>, abgerufen am 01.09.2024.