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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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dramatische Darstellung zusammen zu bringen; in Rußland läßt sich leichter eine
Armee als eine Schauspielerbande schaffen. Der letzte Grund dieses auffallenden
Gegensatzes ist der ungeheure Unterschied, der in der Individualität beider Völker
stattfindet. Der Pole ist höchst sanguinisch, feurig, enthusiastisch, voll Idealis¬
mus nud Begeisterung, der Nüsse ist durch und durch Körper, grobes, sinn¬
liches Behagen, voller Tüchtigkeit zum Schlagen und Balgen, ohne große Fähig¬
keit schnell Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, v

Hierin sind sich Gemeine und Vornehme, Leibeigne und Herren gleich wie
Zwillingsbrüder. Der Adel ist eben so plump als die Bauern. Ju Polen ist
es ganz anders. Den Bauer mag man ein rohes Geschöpf nennen, in dem Vor¬
nehmern findet man aber fast durchgehend einen seinen Mann, dem zwar fast
immer eine wissentschaftliche, nie aber eine weltliche gute Bildung abgeht. Der
Grund davon ist, daß er in seiner beweglichen, reizbaren Seele fortwährend Ver¬
anlassung findet sich in ein Verhältnis^ zur Außenwelt zu sehen und ein Bedürfniß
hat, sich mit ihr zu verständigen. Der Russe hat dies Bedürfniß nicht.

Selbst in Petersburg erfreute sich das deutsche Theater lange einer ungleich
umfassenderen Theilnahme, obschon die Zahl der Russen die der Deutschen siebzehn
Mal überwiegt. Die Russen, welche dort ihr Theater besuchen, sind die Vor¬
nehmsten und Reichsten. Sie betrachten das Theater aber für nicht mehr als
eine Modesache. Daher die seltsame Erscheinung, daß man es in Petersburg für
nobel hielt, nnr dem Anfänge der Darstellung beizuwohnen, wenigstens nicht das
Ende abzuwarten. Es ist vorgekommen, daß längst vor dem Schluß das Haus
völlig leer war, da Jeder nachzuahmen und vornehm zu sein sich bemüht. Zieht
ja etwas an das Theater, so ist es nicht die Poesie, sondern die glänzende
Aeußerlichkeit. Ueber der Haartour oder dein Schleppenkleid einer Schauspielerin
vergißt die Russin gänzlich die Bedeutung derselben in dem Stücke, wenn sie diese
Bedeutung überhaupt uoch versteht. Daher sind die Ballete in den russischen
Theatern zu Petersburg und Moskau ungleich höher geschätzt als die besten Dra¬
men, und ließe die Theaterdirection auf Befehl des Kaisers Seiltänzer und Ath¬
leten, Kunstreiter und dressirte Affen auftreten, so würde dieMehrzahl der Russen erst
recht behaupten, ihr Theater habe die Vollkommenheit erreicht. Es ließ sich dies vor
mehreren Jahren auch in Warschau beobachten, als sich die Kunstreitergesellschaft
der Touruiaire dort befand. Die Theater brachten ihre besten und beliebtesten
Stücke, um uicht zu starken Casseunachtheil zu erleiden; die Polen schenkten patrio¬
tisch dem Theater den Vorzug, die Russen dagegen waren die unwandelbarsten
Verehrer der Kunstreiterin. Freilich begünstigte sie Fürst Paökewitsch. Der Ge-
ueral O. rühmte sich während der ganzen elf Monat langen Anwesenheit der
Kunstreiter nie eine Vorstellung versäumt zu haben; der polnische Graf Ledo-
chowski dagegen besuchte, uach seiner Aeußerung, seiner Kinder halber den Circus
ein Mal und sah von der Vorstellung nichts, indem er hartnäckig in Schillers


dramatische Darstellung zusammen zu bringen; in Rußland läßt sich leichter eine
Armee als eine Schauspielerbande schaffen. Der letzte Grund dieses auffallenden
Gegensatzes ist der ungeheure Unterschied, der in der Individualität beider Völker
stattfindet. Der Pole ist höchst sanguinisch, feurig, enthusiastisch, voll Idealis¬
mus nud Begeisterung, der Nüsse ist durch und durch Körper, grobes, sinn¬
liches Behagen, voller Tüchtigkeit zum Schlagen und Balgen, ohne große Fähig¬
keit schnell Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, v

Hierin sind sich Gemeine und Vornehme, Leibeigne und Herren gleich wie
Zwillingsbrüder. Der Adel ist eben so plump als die Bauern. Ju Polen ist
es ganz anders. Den Bauer mag man ein rohes Geschöpf nennen, in dem Vor¬
nehmern findet man aber fast durchgehend einen seinen Mann, dem zwar fast
immer eine wissentschaftliche, nie aber eine weltliche gute Bildung abgeht. Der
Grund davon ist, daß er in seiner beweglichen, reizbaren Seele fortwährend Ver¬
anlassung findet sich in ein Verhältnis^ zur Außenwelt zu sehen und ein Bedürfniß
hat, sich mit ihr zu verständigen. Der Russe hat dies Bedürfniß nicht.

Selbst in Petersburg erfreute sich das deutsche Theater lange einer ungleich
umfassenderen Theilnahme, obschon die Zahl der Russen die der Deutschen siebzehn
Mal überwiegt. Die Russen, welche dort ihr Theater besuchen, sind die Vor¬
nehmsten und Reichsten. Sie betrachten das Theater aber für nicht mehr als
eine Modesache. Daher die seltsame Erscheinung, daß man es in Petersburg für
nobel hielt, nnr dem Anfänge der Darstellung beizuwohnen, wenigstens nicht das
Ende abzuwarten. Es ist vorgekommen, daß längst vor dem Schluß das Haus
völlig leer war, da Jeder nachzuahmen und vornehm zu sein sich bemüht. Zieht
ja etwas an das Theater, so ist es nicht die Poesie, sondern die glänzende
Aeußerlichkeit. Ueber der Haartour oder dein Schleppenkleid einer Schauspielerin
vergißt die Russin gänzlich die Bedeutung derselben in dem Stücke, wenn sie diese
Bedeutung überhaupt uoch versteht. Daher sind die Ballete in den russischen
Theatern zu Petersburg und Moskau ungleich höher geschätzt als die besten Dra¬
men, und ließe die Theaterdirection auf Befehl des Kaisers Seiltänzer und Ath¬
leten, Kunstreiter und dressirte Affen auftreten, so würde dieMehrzahl der Russen erst
recht behaupten, ihr Theater habe die Vollkommenheit erreicht. Es ließ sich dies vor
mehreren Jahren auch in Warschau beobachten, als sich die Kunstreitergesellschaft
der Touruiaire dort befand. Die Theater brachten ihre besten und beliebtesten
Stücke, um uicht zu starken Casseunachtheil zu erleiden; die Polen schenkten patrio¬
tisch dem Theater den Vorzug, die Russen dagegen waren die unwandelbarsten
Verehrer der Kunstreiterin. Freilich begünstigte sie Fürst Paökewitsch. Der Ge-
ueral O. rühmte sich während der ganzen elf Monat langen Anwesenheit der
Kunstreiter nie eine Vorstellung versäumt zu haben; der polnische Graf Ledo-
chowski dagegen besuchte, uach seiner Aeußerung, seiner Kinder halber den Circus
ein Mal und sah von der Vorstellung nichts, indem er hartnäckig in Schillers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/106>, abgerufen am 01.09.2024.