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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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in Kleinpvlen in den Städten Raton, Kleine, Opatow, Sandomir u. a. Eine
zweite, welche sich vorzugsweise in dem Gouvernement von Kalisch aufhält, steht
unter der Leitung eines gewissen Felinski, dnrch dessen gute dramatische Dichtungen
sie eine Berühmtheit erlangt hat, welche der des Mnsikchors von Strauß ähn¬
lich ist. Doch sind diese Gesellschaften nur ehrwürdige Ueberreste. Das polnische
Theater hat im Allgemeinen eine andere Bestimmung erhalten, als sich vor hun¬
dert Jahren erwarten ließ.

Die Anfänge des russischen Theaters sind l'el weitem jünger. Peter der
Große machte sich zwar außer vielem andern auch mit dem Theater zu schaffen,
doch erst die Kaiserin Katharina emancipirte die dramatische Kunst am Hose.
Unter Alexander und Nicolaus siud dafür in den Residenzen die großartigsten
Einrichtungen gemacht worden, und Rußland rühmt sich, fünf Theater zu besitzen,
von denen zwei in Betreff des Glanzes und der Größe alles Verwandte in
Europa übertreffe"; allein es besitzt doch keinen Sinn sür dramatische Kunst.
Die Bühnen sitzen im Reiche der Moskowiter wie ein Rosenzweig, der auf einen
wilden Waldbaum gepfropft ist. Sie haben sich nicht naturgemäß ans dem poetischen
Bedürfmß des Volkes emporgehoben, und fanden im Lande sehr wenig, was ihnen
als poetischer Untergrund dienen konnte. Daher ist noch gegenwärtig das Thea¬
ter in Rußland ein in jeder Beziehung fremdes Institut. In seinem Ursprünge
uicht national, ist es dem Herzen des Volkes fern geblieben. Durch die starre
Rohheit der russischen Natur haben kaum erst einige schwache Keime für eine
dramatische Literatur emporkommen können, an Gefühl für darstellende Poesie
fehlt es dem Volke, an Geschmack den Gebildeten in auffallender Weise.

Aber in Rußland sind alle Verhältnisse umgekehrt. Was bei anderen Völ¬
kern das Endresultat eines langen Lebens ist, wird bei ihm der Anfang. Eine
natürliche Entwickelung der Nation scheint den Herrschern zu weitläufig, .und in
der That würde dieselbe in manchen Tingen Jahrhunderte erfordern, so suchen
sie die Nation andern Völkern durch gewaltthätige Nachahmung fremder Form
äußerlich gleichzustellen. Peter der Große sagt in seinem Testamete: "man ver¬
säume nie, dem russischen Volke europäische Formen und Gebräuche zu geben."
Das Theater in Nußland ist eine dieser Formen; und schon hieraus ist ersicht¬
lich, in welchem Zustande es sich befindet. --

Wohl leben im Lande einige freie Schauspielergcsellschaften, allein es sind
keine russischen, oder doch nur solche, welche auf Speculation eines Fremden ent¬
standen sind. Odessa hat deren z. B. öfters zwei, zuweilen anch drei. Die
italienische Gesellschaft soll Gutes leisten. Die russische, welche jetzt stabil ge-
worden, stand bisher uuter Leitung eines Deutschen und leistete nnr Schlechtes.
Die Gesellschaft in Kiew besteht zum größten Theile aus Polen der altpolnischen,
Rußland einverleibten Provinzen; sie wird gerühmt. In Polen würde es möglich
sein, in jedem kleinen Nest von Stadt eine ganz erträgliche Gesellschaft für


Grcnzl'oder. III. 18S0. 13

in Kleinpvlen in den Städten Raton, Kleine, Opatow, Sandomir u. a. Eine
zweite, welche sich vorzugsweise in dem Gouvernement von Kalisch aufhält, steht
unter der Leitung eines gewissen Felinski, dnrch dessen gute dramatische Dichtungen
sie eine Berühmtheit erlangt hat, welche der des Mnsikchors von Strauß ähn¬
lich ist. Doch sind diese Gesellschaften nur ehrwürdige Ueberreste. Das polnische
Theater hat im Allgemeinen eine andere Bestimmung erhalten, als sich vor hun¬
dert Jahren erwarten ließ.

Die Anfänge des russischen Theaters sind l'el weitem jünger. Peter der
Große machte sich zwar außer vielem andern auch mit dem Theater zu schaffen,
doch erst die Kaiserin Katharina emancipirte die dramatische Kunst am Hose.
Unter Alexander und Nicolaus siud dafür in den Residenzen die großartigsten
Einrichtungen gemacht worden, und Rußland rühmt sich, fünf Theater zu besitzen,
von denen zwei in Betreff des Glanzes und der Größe alles Verwandte in
Europa übertreffe»; allein es besitzt doch keinen Sinn sür dramatische Kunst.
Die Bühnen sitzen im Reiche der Moskowiter wie ein Rosenzweig, der auf einen
wilden Waldbaum gepfropft ist. Sie haben sich nicht naturgemäß ans dem poetischen
Bedürfmß des Volkes emporgehoben, und fanden im Lande sehr wenig, was ihnen
als poetischer Untergrund dienen konnte. Daher ist noch gegenwärtig das Thea¬
ter in Rußland ein in jeder Beziehung fremdes Institut. In seinem Ursprünge
uicht national, ist es dem Herzen des Volkes fern geblieben. Durch die starre
Rohheit der russischen Natur haben kaum erst einige schwache Keime für eine
dramatische Literatur emporkommen können, an Gefühl für darstellende Poesie
fehlt es dem Volke, an Geschmack den Gebildeten in auffallender Weise.

Aber in Rußland sind alle Verhältnisse umgekehrt. Was bei anderen Völ¬
kern das Endresultat eines langen Lebens ist, wird bei ihm der Anfang. Eine
natürliche Entwickelung der Nation scheint den Herrschern zu weitläufig, .und in
der That würde dieselbe in manchen Tingen Jahrhunderte erfordern, so suchen
sie die Nation andern Völkern durch gewaltthätige Nachahmung fremder Form
äußerlich gleichzustellen. Peter der Große sagt in seinem Testamete: „man ver¬
säume nie, dem russischen Volke europäische Formen und Gebräuche zu geben."
Das Theater in Nußland ist eine dieser Formen; und schon hieraus ist ersicht¬
lich, in welchem Zustande es sich befindet. —

Wohl leben im Lande einige freie Schauspielergcsellschaften, allein es sind
keine russischen, oder doch nur solche, welche auf Speculation eines Fremden ent¬
standen sind. Odessa hat deren z. B. öfters zwei, zuweilen anch drei. Die
italienische Gesellschaft soll Gutes leisten. Die russische, welche jetzt stabil ge-
worden, stand bisher uuter Leitung eines Deutschen und leistete nnr Schlechtes.
Die Gesellschaft in Kiew besteht zum größten Theile aus Polen der altpolnischen,
Rußland einverleibten Provinzen; sie wird gerühmt. In Polen würde es möglich
sein, in jedem kleinen Nest von Stadt eine ganz erträgliche Gesellschaft für


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[0105] in Kleinpvlen in den Städten Raton, Kleine, Opatow, Sandomir u. a. Eine zweite, welche sich vorzugsweise in dem Gouvernement von Kalisch aufhält, steht unter der Leitung eines gewissen Felinski, dnrch dessen gute dramatische Dichtungen sie eine Berühmtheit erlangt hat, welche der des Mnsikchors von Strauß ähn¬ lich ist. Doch sind diese Gesellschaften nur ehrwürdige Ueberreste. Das polnische Theater hat im Allgemeinen eine andere Bestimmung erhalten, als sich vor hun¬ dert Jahren erwarten ließ. Die Anfänge des russischen Theaters sind l'el weitem jünger. Peter der Große machte sich zwar außer vielem andern auch mit dem Theater zu schaffen, doch erst die Kaiserin Katharina emancipirte die dramatische Kunst am Hose. Unter Alexander und Nicolaus siud dafür in den Residenzen die großartigsten Einrichtungen gemacht worden, und Rußland rühmt sich, fünf Theater zu besitzen, von denen zwei in Betreff des Glanzes und der Größe alles Verwandte in Europa übertreffe»; allein es besitzt doch keinen Sinn sür dramatische Kunst. Die Bühnen sitzen im Reiche der Moskowiter wie ein Rosenzweig, der auf einen wilden Waldbaum gepfropft ist. Sie haben sich nicht naturgemäß ans dem poetischen Bedürfmß des Volkes emporgehoben, und fanden im Lande sehr wenig, was ihnen als poetischer Untergrund dienen konnte. Daher ist noch gegenwärtig das Thea¬ ter in Rußland ein in jeder Beziehung fremdes Institut. In seinem Ursprünge uicht national, ist es dem Herzen des Volkes fern geblieben. Durch die starre Rohheit der russischen Natur haben kaum erst einige schwache Keime für eine dramatische Literatur emporkommen können, an Gefühl für darstellende Poesie fehlt es dem Volke, an Geschmack den Gebildeten in auffallender Weise. Aber in Rußland sind alle Verhältnisse umgekehrt. Was bei anderen Völ¬ kern das Endresultat eines langen Lebens ist, wird bei ihm der Anfang. Eine natürliche Entwickelung der Nation scheint den Herrschern zu weitläufig, .und in der That würde dieselbe in manchen Tingen Jahrhunderte erfordern, so suchen sie die Nation andern Völkern durch gewaltthätige Nachahmung fremder Form äußerlich gleichzustellen. Peter der Große sagt in seinem Testamete: „man ver¬ säume nie, dem russischen Volke europäische Formen und Gebräuche zu geben." Das Theater in Nußland ist eine dieser Formen; und schon hieraus ist ersicht¬ lich, in welchem Zustande es sich befindet. — Wohl leben im Lande einige freie Schauspielergcsellschaften, allein es sind keine russischen, oder doch nur solche, welche auf Speculation eines Fremden ent¬ standen sind. Odessa hat deren z. B. öfters zwei, zuweilen anch drei. Die italienische Gesellschaft soll Gutes leisten. Die russische, welche jetzt stabil ge- worden, stand bisher uuter Leitung eines Deutschen und leistete nnr Schlechtes. Die Gesellschaft in Kiew besteht zum größten Theile aus Polen der altpolnischen, Rußland einverleibten Provinzen; sie wird gerühmt. In Polen würde es möglich sein, in jedem kleinen Nest von Stadt eine ganz erträgliche Gesellschaft für Grcnzl'oder. III. 18S0. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/105>, abgerufen am 27.07.2024.