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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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^reibt er einen Luxus, wie Victor Hugo, aber ohne dessen in Einzelheiten immer
anerkennenswerthe Sachkenntniß. Dabei liebt er es, auffallende Erscheinungen
auf medicinische Probleme zurückzuführen, und in denk einen übrigens sehr schlech¬
ten Roman, der deu Eevennentrieg behandelt (.team e,av^ki<zi) ist die nledicinische
Hypothese über die wunderbaren Phänomene der huguenottischen Propheten 'sinn¬
reich genug. Die Anführer der Schwärmer sind auch hier kalt berechnende Schur¬
ken, die die Welt betrügen, wie sich selber.

Mit all dieser Verzweiflung über die Verkehrtheit des Weltlauss hätte Engen
Sue auf die Länge kein Glück gemacht, denn das Publicum wird verdrüsilich, wenn
es das Laster beständig triumphiren sieht. Ju die Resignation des alten Glau¬
bens, die Erde müsse ein Jammerthal sein, um dein Himmel zur Folie zu dienen,
kann sich selbst der moderne Romantiker nicht zurück schwindeln, obgleich er im
Anfang fromm und conservativ genug aufgetreten ist. Dagegen hat er später das
angemessene Mittel gefunden, den Weltlauf mit dein Ideal des Guten zu versöhnen,
in dem Jesuitismus der Tugend.

Zuerst sind es einzelne, höher begabte tugendhafte Menschen, von denen dieser
Jesuitismus ausgeübt wird. Schon in einem früheren Roman, Mathilde, stellt
sich das höhere Bewußtsein der Tugend mit einer ziemlich despotischen Willkür in
den Mitteln dem Reich des Lasters entgegen. In den Mystöres erreicht dieser
Despotismus der guten Sache seinen Höhepunkt. Der Großherzog Rudolf, die
Fleisch gewordene Vorsehung in dieser Welt der Trübsal, begeht in seinem Kampf
gegen die Bösen Verbrechen, die jeden andern wenigstens in's Zuchthaus gebracht
haben würden. In den Franzosen steckt überhaupt uoch immer viel von einem
Robespierre, und die Sache wird dadurch nur noch schlimmer, daß an Stelle des
alten uwralischen Rigorismus eine gewisse lare Genialität in der llnterscheidung
von Gut und Böse eittgetreten ist. Rudolf und seine spätern Nachfolger verwer¬
then das Laster zu ihren guten Zwecken, sie wollen das Gift in Arznei verwandeln.
Aber sie täuschen sich darin; in der sittlichen Welt ist es nicht wie in der phy¬
sischen, wo alle Wirkung nur relativ ist. Wo eine Gesellschaft so weit gekommen
ist, das Gewissen wegznreflectiren durch ein Rechen-Exempel, in welchem das Po¬
sitive, das erreicht werden soll, mit dem Negativen der Mittel in Ausgleichung
gebracht wird, ist sie unsittlicher als im Zustand naiver Barbarei. Den Franzosen
liegen noch immer die alten Casnisten im Kopfe; in ihrer Bekämpfung hat sich
Pascal zu sehr an die äußere Erscheinung gehalten, den Principiell ist er nicht
zu Leibe gegangen. Nur der Protestantismus hat einen Kant möglich gemacht.
-- Man bleibt nämlich bei dem Grundsatz, der Zweck heiligt die Mittel, nicht
stehen, sobald man einmal das feste Gebäude des objectiven Rechts gebrochen hat,
man reflectirt weiter, und findet bald, daß sich auch über das Wesen des Guten
nach beiden Seiten hin mancherlei sagen läßt. So gut Engen Sue in seinen
früheren Werken den Weltlauf ans den Kopf gestellt hat, macht er es in seinen


^reibt er einen Luxus, wie Victor Hugo, aber ohne dessen in Einzelheiten immer
anerkennenswerthe Sachkenntniß. Dabei liebt er es, auffallende Erscheinungen
auf medicinische Probleme zurückzuführen, und in denk einen übrigens sehr schlech¬
ten Roman, der deu Eevennentrieg behandelt (.team e,av^ki<zi) ist die nledicinische
Hypothese über die wunderbaren Phänomene der huguenottischen Propheten 'sinn¬
reich genug. Die Anführer der Schwärmer sind auch hier kalt berechnende Schur¬
ken, die die Welt betrügen, wie sich selber.

Mit all dieser Verzweiflung über die Verkehrtheit des Weltlauss hätte Engen
Sue auf die Länge kein Glück gemacht, denn das Publicum wird verdrüsilich, wenn
es das Laster beständig triumphiren sieht. Ju die Resignation des alten Glau¬
bens, die Erde müsse ein Jammerthal sein, um dein Himmel zur Folie zu dienen,
kann sich selbst der moderne Romantiker nicht zurück schwindeln, obgleich er im
Anfang fromm und conservativ genug aufgetreten ist. Dagegen hat er später das
angemessene Mittel gefunden, den Weltlauf mit dein Ideal des Guten zu versöhnen,
in dem Jesuitismus der Tugend.

Zuerst sind es einzelne, höher begabte tugendhafte Menschen, von denen dieser
Jesuitismus ausgeübt wird. Schon in einem früheren Roman, Mathilde, stellt
sich das höhere Bewußtsein der Tugend mit einer ziemlich despotischen Willkür in
den Mitteln dem Reich des Lasters entgegen. In den Mystöres erreicht dieser
Despotismus der guten Sache seinen Höhepunkt. Der Großherzog Rudolf, die
Fleisch gewordene Vorsehung in dieser Welt der Trübsal, begeht in seinem Kampf
gegen die Bösen Verbrechen, die jeden andern wenigstens in's Zuchthaus gebracht
haben würden. In den Franzosen steckt überhaupt uoch immer viel von einem
Robespierre, und die Sache wird dadurch nur noch schlimmer, daß an Stelle des
alten uwralischen Rigorismus eine gewisse lare Genialität in der llnterscheidung
von Gut und Böse eittgetreten ist. Rudolf und seine spätern Nachfolger verwer¬
then das Laster zu ihren guten Zwecken, sie wollen das Gift in Arznei verwandeln.
Aber sie täuschen sich darin; in der sittlichen Welt ist es nicht wie in der phy¬
sischen, wo alle Wirkung nur relativ ist. Wo eine Gesellschaft so weit gekommen
ist, das Gewissen wegznreflectiren durch ein Rechen-Exempel, in welchem das Po¬
sitive, das erreicht werden soll, mit dem Negativen der Mittel in Ausgleichung
gebracht wird, ist sie unsittlicher als im Zustand naiver Barbarei. Den Franzosen
liegen noch immer die alten Casnisten im Kopfe; in ihrer Bekämpfung hat sich
Pascal zu sehr an die äußere Erscheinung gehalten, den Principiell ist er nicht
zu Leibe gegangen. Nur der Protestantismus hat einen Kant möglich gemacht.
— Man bleibt nämlich bei dem Grundsatz, der Zweck heiligt die Mittel, nicht
stehen, sobald man einmal das feste Gebäude des objectiven Rechts gebrochen hat,
man reflectirt weiter, und findet bald, daß sich auch über das Wesen des Guten
nach beiden Seiten hin mancherlei sagen läßt. So gut Engen Sue in seinen
früheren Werken den Weltlauf ans den Kopf gestellt hat, macht er es in seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/96>, abgerufen am 01.10.2024.