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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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oder Pflegekind einer großen und ruhmreiche,! Familie ist gerne stolz darauf, ihr
anzugehören, wenn man ihm diesen Stolz nicht durch verletzende Erinnerungen an
seine Herkunft verleidet,

Mr. Jodel ist ein ehrenfester englischer Patriot, aber einen schwärmerischereil
Patrioten als den Großvater Double-?)on besitzt Victoria in allen drei König¬
reichen nicht. Englisch bedeutet ihm engelhaft; es gibt keine Nachtseite im Leben
Englands, der seine Phantasie nicht einigen Sternenglanz andichtet; kein Gebrechen
und keinen Verdruß, vom Noveulberuebel bis zur Nationalschuld, worin sein
Scharfblick nicht eine großartige Schönheit oder einen absonderlichen providen-
tiellen Vortheil erkennt. Daß er in Deutschland geboren ist, hat er jedenfalls ver¬
gessen, höchstens gibt er zu, ans Versehen auswärts ans die Welt gekommen zu
sein, denn sein Herz war schon im Mutterleibe englisch gesinnt. Die Wiegen¬
lieder, mit denen die englische Amme seine Kinder und Enkel lullte, summt er sich
vor, so oft er in einsamen Dämmerstunden sein Leben überschaut; sie klingen ihm
wie Lieder aus der eigenen Kinderzeit. Die Stoßseufzer und Segensspruche, mit
deuen er die Hände auf das Haupt der Seinigen legt, die frommen biblischen
Tischreden, mit denen er an Sabbath- und Festtagen die Familie erbaut, siud
stets im reinsten Englisch gedacht und gesprochen; eine andere Sprache in so hei¬
ligen Stunden zu reden, hielte er für Entweihung. Sein Deutsch ist auch uicht
vom Besten und läßt zuweilen Frankfurter Anklänge hören, obwohl er für die
Maiustadt eine souveräuerc Verachtmlg hegt als der selige Börne.

Großvater Double-Non ist fromm, fabelhaft fronlin, aber auf die Hochkirche
Englands, in seinen Augen die duldsamste und aufgeklärteste der christlichen Zeit-
rechnung, laßt er Nichts komme"; nächst dem zerstörten Tempel Salomonis hält
er die Se. Paulskirche und die Westiiliilsterabtei für die heiligsten Stätten des
Erdballs. Die Götzendiener von Papisten und die Freigeister von Lutheranern
betrachtet er mit sehr argwöhnischen Augen, welliger als orthodorer Jude wie als
Anhänger John Bull'S und Freund- der anglikanischen Kirche, deren Bräuche und
Satzungen, wie er mit tiefer Befriedigung entdeckt hat, stark nach dem Geist des
alten Testaiueuts dufte". Ja, ich vermuthe, die Freundschaft für John Bull hat
manchem Dogma seines Glaubens eine Färbung gegeben, über die eine Synode
von echten altgläubigeil Rabbinern deu Kopf schütteln würde, denn nach den ge-
heimnißvollen Andeutungen, die er einmal falle" ließ, zu folgern, hält er die
dereinstige Ankunft des jüdischen Messias nicht mehr für eine ausgemachte Sache,
da doch England so stark und stärker als Palästina von Milch und Honig über¬
fließe. Daran jedoch ist kein Zweifel: sollte die Vorsehung es heute noch für
unumgänglich nöthig erachten, den Kindern Israels einen Messias zu senden, so
wird dieser Abgesandte des Himmels, als Lordmayor von London, in langer
Perrücke und in einer vergoldeten Kutsche, durch die City fah'ren, der Ausmarsch
der Jildcil nach dem gelobten Lande nud die Eroberung desselben wird mit Be-


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oder Pflegekind einer großen und ruhmreiche,! Familie ist gerne stolz darauf, ihr
anzugehören, wenn man ihm diesen Stolz nicht durch verletzende Erinnerungen an
seine Herkunft verleidet,

Mr. Jodel ist ein ehrenfester englischer Patriot, aber einen schwärmerischereil
Patrioten als den Großvater Double-?)on besitzt Victoria in allen drei König¬
reichen nicht. Englisch bedeutet ihm engelhaft; es gibt keine Nachtseite im Leben
Englands, der seine Phantasie nicht einigen Sternenglanz andichtet; kein Gebrechen
und keinen Verdruß, vom Noveulberuebel bis zur Nationalschuld, worin sein
Scharfblick nicht eine großartige Schönheit oder einen absonderlichen providen-
tiellen Vortheil erkennt. Daß er in Deutschland geboren ist, hat er jedenfalls ver¬
gessen, höchstens gibt er zu, ans Versehen auswärts ans die Welt gekommen zu
sein, denn sein Herz war schon im Mutterleibe englisch gesinnt. Die Wiegen¬
lieder, mit denen die englische Amme seine Kinder und Enkel lullte, summt er sich
vor, so oft er in einsamen Dämmerstunden sein Leben überschaut; sie klingen ihm
wie Lieder aus der eigenen Kinderzeit. Die Stoßseufzer und Segensspruche, mit
deuen er die Hände auf das Haupt der Seinigen legt, die frommen biblischen
Tischreden, mit denen er an Sabbath- und Festtagen die Familie erbaut, siud
stets im reinsten Englisch gedacht und gesprochen; eine andere Sprache in so hei¬
ligen Stunden zu reden, hielte er für Entweihung. Sein Deutsch ist auch uicht
vom Besten und läßt zuweilen Frankfurter Anklänge hören, obwohl er für die
Maiustadt eine souveräuerc Verachtmlg hegt als der selige Börne.

Großvater Double-Non ist fromm, fabelhaft fronlin, aber auf die Hochkirche
Englands, in seinen Augen die duldsamste und aufgeklärteste der christlichen Zeit-
rechnung, laßt er Nichts komme»; nächst dem zerstörten Tempel Salomonis hält
er die Se. Paulskirche und die Westiiliilsterabtei für die heiligsten Stätten des
Erdballs. Die Götzendiener von Papisten und die Freigeister von Lutheranern
betrachtet er mit sehr argwöhnischen Augen, welliger als orthodorer Jude wie als
Anhänger John Bull'S und Freund- der anglikanischen Kirche, deren Bräuche und
Satzungen, wie er mit tiefer Befriedigung entdeckt hat, stark nach dem Geist des
alten Testaiueuts dufte». Ja, ich vermuthe, die Freundschaft für John Bull hat
manchem Dogma seines Glaubens eine Färbung gegeben, über die eine Synode
von echten altgläubigeil Rabbinern deu Kopf schütteln würde, denn nach den ge-
heimnißvollen Andeutungen, die er einmal falle» ließ, zu folgern, hält er die
dereinstige Ankunft des jüdischen Messias nicht mehr für eine ausgemachte Sache,
da doch England so stark und stärker als Palästina von Milch und Honig über¬
fließe. Daran jedoch ist kein Zweifel: sollte die Vorsehung es heute noch für
unumgänglich nöthig erachten, den Kindern Israels einen Messias zu senden, so
wird dieser Abgesandte des Himmels, als Lordmayor von London, in langer
Perrücke und in einer vergoldeten Kutsche, durch die City fah'ren, der Ausmarsch
der Jildcil nach dem gelobten Lande nud die Eroberung desselben wird mit Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/75>, abgerufen am 22.07.2024.