Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beifälliges Kopfschütteln an, daß mit der Zeit, durch Ermahnungen nud durch die
Ruthe, er nicht verzweifelte, ans dem guten, unschuldigen Ding noch etwas zu
machen; aber nach der Julirevolution wurde sie unerbittlich in das Spinnhauö
geschickt, als bezüchtigt und rechtmäßig überführt des revolutionären Leichtsinnes,
der Frivolität und der Unfähigkeit zu den philosophischen Studien. . . . Die
Deutschen sind in der letzten Zeit zum Gegenstand eines Götzendienstes gemacht,
der sie corrumpirt. Eine argwöhnische Empfindlichkeit stachelt fortwährend diese
neuen Könige der öffentlichen Meinung. Wie alle Nomauheldeu, haben sie die
Einbildung, gleichviel ob man sie lobt oder tadelt, nie von ihren Anbetern begriffen
zu werden, und man kaun nicht leugnen, daß sie ihrerseits alles dazu beitragen,
um dies Ziel zu erreichen . . . Ist man einmal Gott gewesen, so hält man et¬
was ans seine Wolken .... Die beiden Völker verstehen einander nicht. Wir
stellen uns Deutschland noch immer nach dem Bilde der Frau v. StaiN vor: ein
Land der Betrachtung und des Enthusiasmus, ein den Dichtern überlassenes
Eden, die ganze Nation wie die entschlafene Schöne im verzauberten Walde. --
Ebenso denken sich die Deutschen unter jedem Franzosen einen geschminkten Gek-
ken, ungläubig, witzig und frivol, der beständig lacht, und ans Voltaire schwört.
Wenn ihr nach Deutschland reist, so seid auf graciöse Weise ruchlos, spöttisch,
leichtsinnig, das ist eure gegebene Rolle, das ist, was man von euch erwartet.
Behauptet ihr aber, das Alter habe euch ernsthaft, tiefsinnig, gläubig gemacht, so
wird man lächeln: "Ihr Spott kann mich nicht täuschen. Ihr angeblicher Ernst
und Ihre angebliche Religion sind nnr neue graciöse Formen, die Sie an die alten
des vorigen Jahrhunderts anknüpfen. Sie spielen mit dem Unendlichen und der
Philosophie, wie Ihr Großvater mit Ninon de l'Enclos."

Dieser Ausspruch ist so richtig, daß wir ihn nicht nur unterschreiben, daß
wir ihn. auf seinen eigenen Urheber anwenden. Trotz seiner angeblichen Religion,
seines angeblichen Ernstes, trotz seiner wirklich sehr ausgebreiteten universellen Bil¬
dung, ist Qninet der französische Windbeutel des vorigen Jahrhunderts, der der
Jungfran Maria die Cour macht, weil er gerade in Beziehung ans die Grisetten
blasirt ist; der gothische Kirchen schmilzt, weil sie als Rococo wieder Mode ge¬
worden sind.

In seiner Polemik gegen die deutsche Philosophie mischt sich die Floskel auf
eine sonderbare Weise init sehr treffenden Anschauungen. Seine Bildersprache verwischt
oft ganz den Zusammenhang des Gedankens; die Nothwendigkeit eines pathetischen, von
Glauben und Liebe überschwellender Abgangs hebt in der Regel die Resultate sei¬
ner vorangehenden Deduction auf; und die französische Neigung zu Antithesen er¬
setzt die Gründlichkeit des Wissens. Von Letzterem ein Beispiel. Er stellt die
Entwickelung, der deutschen Philosophie mit der französischen Revolution in Paral¬
lele. Kant vergleicht er mit der Constituante, weil er die Grundlinien der neuen
Sittlichkeit gezogen, Fichte mit der Bergpartei und dem Convent, wegen seines


beifälliges Kopfschütteln an, daß mit der Zeit, durch Ermahnungen nud durch die
Ruthe, er nicht verzweifelte, ans dem guten, unschuldigen Ding noch etwas zu
machen; aber nach der Julirevolution wurde sie unerbittlich in das Spinnhauö
geschickt, als bezüchtigt und rechtmäßig überführt des revolutionären Leichtsinnes,
der Frivolität und der Unfähigkeit zu den philosophischen Studien. . . . Die
Deutschen sind in der letzten Zeit zum Gegenstand eines Götzendienstes gemacht,
der sie corrumpirt. Eine argwöhnische Empfindlichkeit stachelt fortwährend diese
neuen Könige der öffentlichen Meinung. Wie alle Nomauheldeu, haben sie die
Einbildung, gleichviel ob man sie lobt oder tadelt, nie von ihren Anbetern begriffen
zu werden, und man kaun nicht leugnen, daß sie ihrerseits alles dazu beitragen,
um dies Ziel zu erreichen . . . Ist man einmal Gott gewesen, so hält man et¬
was ans seine Wolken .... Die beiden Völker verstehen einander nicht. Wir
stellen uns Deutschland noch immer nach dem Bilde der Frau v. StaiN vor: ein
Land der Betrachtung und des Enthusiasmus, ein den Dichtern überlassenes
Eden, die ganze Nation wie die entschlafene Schöne im verzauberten Walde. —
Ebenso denken sich die Deutschen unter jedem Franzosen einen geschminkten Gek-
ken, ungläubig, witzig und frivol, der beständig lacht, und ans Voltaire schwört.
Wenn ihr nach Deutschland reist, so seid auf graciöse Weise ruchlos, spöttisch,
leichtsinnig, das ist eure gegebene Rolle, das ist, was man von euch erwartet.
Behauptet ihr aber, das Alter habe euch ernsthaft, tiefsinnig, gläubig gemacht, so
wird man lächeln: „Ihr Spott kann mich nicht täuschen. Ihr angeblicher Ernst
und Ihre angebliche Religion sind nnr neue graciöse Formen, die Sie an die alten
des vorigen Jahrhunderts anknüpfen. Sie spielen mit dem Unendlichen und der
Philosophie, wie Ihr Großvater mit Ninon de l'Enclos."

Dieser Ausspruch ist so richtig, daß wir ihn nicht nur unterschreiben, daß
wir ihn. auf seinen eigenen Urheber anwenden. Trotz seiner angeblichen Religion,
seines angeblichen Ernstes, trotz seiner wirklich sehr ausgebreiteten universellen Bil¬
dung, ist Qninet der französische Windbeutel des vorigen Jahrhunderts, der der
Jungfran Maria die Cour macht, weil er gerade in Beziehung ans die Grisetten
blasirt ist; der gothische Kirchen schmilzt, weil sie als Rococo wieder Mode ge¬
worden sind.

In seiner Polemik gegen die deutsche Philosophie mischt sich die Floskel auf
eine sonderbare Weise init sehr treffenden Anschauungen. Seine Bildersprache verwischt
oft ganz den Zusammenhang des Gedankens; die Nothwendigkeit eines pathetischen, von
Glauben und Liebe überschwellender Abgangs hebt in der Regel die Resultate sei¬
ner vorangehenden Deduction auf; und die französische Neigung zu Antithesen er¬
setzt die Gründlichkeit des Wissens. Von Letzterem ein Beispiel. Er stellt die
Entwickelung, der deutschen Philosophie mit der französischen Revolution in Paral¬
lele. Kant vergleicht er mit der Constituante, weil er die Grundlinien der neuen
Sittlichkeit gezogen, Fichte mit der Bergpartei und dem Convent, wegen seines


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185390"/>
          <p xml:id="ID_156" prev="#ID_155"> beifälliges Kopfschütteln an, daß mit der Zeit, durch Ermahnungen nud durch die<lb/>
Ruthe, er nicht verzweifelte, ans dem guten, unschuldigen Ding noch etwas zu<lb/>
machen; aber nach der Julirevolution wurde sie unerbittlich in das Spinnhauö<lb/>
geschickt, als bezüchtigt und rechtmäßig überführt des revolutionären Leichtsinnes,<lb/>
der Frivolität und der Unfähigkeit zu den philosophischen Studien. . . . Die<lb/>
Deutschen sind in der letzten Zeit zum Gegenstand eines Götzendienstes gemacht,<lb/>
der sie corrumpirt. Eine argwöhnische Empfindlichkeit stachelt fortwährend diese<lb/>
neuen Könige der öffentlichen Meinung. Wie alle Nomauheldeu, haben sie die<lb/>
Einbildung, gleichviel ob man sie lobt oder tadelt, nie von ihren Anbetern begriffen<lb/>
zu werden, und man kaun nicht leugnen, daß sie ihrerseits alles dazu beitragen,<lb/>
um dies Ziel zu erreichen . . . Ist man einmal Gott gewesen, so hält man et¬<lb/>
was ans seine Wolken .... Die beiden Völker verstehen einander nicht. Wir<lb/>
stellen uns Deutschland noch immer nach dem Bilde der Frau v. StaiN vor: ein<lb/>
Land der Betrachtung und des Enthusiasmus, ein den Dichtern überlassenes<lb/>
Eden, die ganze Nation wie die entschlafene Schöne im verzauberten Walde. &#x2014;<lb/>
Ebenso denken sich die Deutschen unter jedem Franzosen einen geschminkten Gek-<lb/>
ken, ungläubig, witzig und frivol, der beständig lacht, und ans Voltaire schwört.<lb/>
Wenn ihr nach Deutschland reist, so seid auf graciöse Weise ruchlos, spöttisch,<lb/>
leichtsinnig, das ist eure gegebene Rolle, das ist, was man von euch erwartet.<lb/>
Behauptet ihr aber, das Alter habe euch ernsthaft, tiefsinnig, gläubig gemacht, so<lb/>
wird man lächeln: &#x201E;Ihr Spott kann mich nicht täuschen. Ihr angeblicher Ernst<lb/>
und Ihre angebliche Religion sind nnr neue graciöse Formen, die Sie an die alten<lb/>
des vorigen Jahrhunderts anknüpfen. Sie spielen mit dem Unendlichen und der<lb/>
Philosophie, wie Ihr Großvater mit Ninon de l'Enclos."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_157"> Dieser Ausspruch ist so richtig, daß wir ihn nicht nur unterschreiben, daß<lb/>
wir ihn. auf seinen eigenen Urheber anwenden. Trotz seiner angeblichen Religion,<lb/>
seines angeblichen Ernstes, trotz seiner wirklich sehr ausgebreiteten universellen Bil¬<lb/>
dung, ist Qninet der französische Windbeutel des vorigen Jahrhunderts, der der<lb/>
Jungfran Maria die Cour macht, weil er gerade in Beziehung ans die Grisetten<lb/>
blasirt ist; der gothische Kirchen schmilzt, weil sie als Rococo wieder Mode ge¬<lb/>
worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_158" next="#ID_159"> In seiner Polemik gegen die deutsche Philosophie mischt sich die Floskel auf<lb/>
eine sonderbare Weise init sehr treffenden Anschauungen. Seine Bildersprache verwischt<lb/>
oft ganz den Zusammenhang des Gedankens; die Nothwendigkeit eines pathetischen, von<lb/>
Glauben und Liebe überschwellender Abgangs hebt in der Regel die Resultate sei¬<lb/>
ner vorangehenden Deduction auf; und die französische Neigung zu Antithesen er¬<lb/>
setzt die Gründlichkeit des Wissens. Von Letzterem ein Beispiel. Er stellt die<lb/>
Entwickelung, der deutschen Philosophie mit der französischen Revolution in Paral¬<lb/>
lele. Kant vergleicht er mit der Constituante, weil er die Grundlinien der neuen<lb/>
Sittlichkeit gezogen, Fichte mit der Bergpartei und dem Convent, wegen seines</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] beifälliges Kopfschütteln an, daß mit der Zeit, durch Ermahnungen nud durch die Ruthe, er nicht verzweifelte, ans dem guten, unschuldigen Ding noch etwas zu machen; aber nach der Julirevolution wurde sie unerbittlich in das Spinnhauö geschickt, als bezüchtigt und rechtmäßig überführt des revolutionären Leichtsinnes, der Frivolität und der Unfähigkeit zu den philosophischen Studien. . . . Die Deutschen sind in der letzten Zeit zum Gegenstand eines Götzendienstes gemacht, der sie corrumpirt. Eine argwöhnische Empfindlichkeit stachelt fortwährend diese neuen Könige der öffentlichen Meinung. Wie alle Nomauheldeu, haben sie die Einbildung, gleichviel ob man sie lobt oder tadelt, nie von ihren Anbetern begriffen zu werden, und man kaun nicht leugnen, daß sie ihrerseits alles dazu beitragen, um dies Ziel zu erreichen . . . Ist man einmal Gott gewesen, so hält man et¬ was ans seine Wolken .... Die beiden Völker verstehen einander nicht. Wir stellen uns Deutschland noch immer nach dem Bilde der Frau v. StaiN vor: ein Land der Betrachtung und des Enthusiasmus, ein den Dichtern überlassenes Eden, die ganze Nation wie die entschlafene Schöne im verzauberten Walde. — Ebenso denken sich die Deutschen unter jedem Franzosen einen geschminkten Gek- ken, ungläubig, witzig und frivol, der beständig lacht, und ans Voltaire schwört. Wenn ihr nach Deutschland reist, so seid auf graciöse Weise ruchlos, spöttisch, leichtsinnig, das ist eure gegebene Rolle, das ist, was man von euch erwartet. Behauptet ihr aber, das Alter habe euch ernsthaft, tiefsinnig, gläubig gemacht, so wird man lächeln: „Ihr Spott kann mich nicht täuschen. Ihr angeblicher Ernst und Ihre angebliche Religion sind nnr neue graciöse Formen, die Sie an die alten des vorigen Jahrhunderts anknüpfen. Sie spielen mit dem Unendlichen und der Philosophie, wie Ihr Großvater mit Ninon de l'Enclos." Dieser Ausspruch ist so richtig, daß wir ihn nicht nur unterschreiben, daß wir ihn. auf seinen eigenen Urheber anwenden. Trotz seiner angeblichen Religion, seines angeblichen Ernstes, trotz seiner wirklich sehr ausgebreiteten universellen Bil¬ dung, ist Qninet der französische Windbeutel des vorigen Jahrhunderts, der der Jungfran Maria die Cour macht, weil er gerade in Beziehung ans die Grisetten blasirt ist; der gothische Kirchen schmilzt, weil sie als Rococo wieder Mode ge¬ worden sind. In seiner Polemik gegen die deutsche Philosophie mischt sich die Floskel auf eine sonderbare Weise init sehr treffenden Anschauungen. Seine Bildersprache verwischt oft ganz den Zusammenhang des Gedankens; die Nothwendigkeit eines pathetischen, von Glauben und Liebe überschwellender Abgangs hebt in der Regel die Resultate sei¬ ner vorangehenden Deduction auf; und die französische Neigung zu Antithesen er¬ setzt die Gründlichkeit des Wissens. Von Letzterem ein Beispiel. Er stellt die Entwickelung, der deutschen Philosophie mit der französischen Revolution in Paral¬ lele. Kant vergleicht er mit der Constituante, weil er die Grundlinien der neuen Sittlichkeit gezogen, Fichte mit der Bergpartei und dem Convent, wegen seines

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/54
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/54>, abgerufen am 25.08.2024.