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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Welt, sie stelle" es lediglich mit den beiden übrigen Perioden der Geschichte, in
denen sie auf ähnliche Weise ein Bild der goldnen Zeit verehren, in Verbindung,
mit dem! Augusteischen Zeitalter und dem Jahrhundert Leo's X. Die Über¬
gangszeiten lassen sie als barbarisch aber als gleichgiltig für die Entwickelung der
echten Humanität bei Seite fallen. Die Schule hatte sich znlchr ans eine Weise
in ihr System und ihre Regeln verstrickt, daß sie genau die Zahl der Bilder be¬
rechnete, welche die Poesie ertragen könne, ohne zu sterben; daß sie dem Dichter
nicht blos seine Metaphern muaß, sondern auch seinen Antheil an Ideen, Em¬
pfindungen, Liebe, Religion, Poesie. Wenn nun die Romantiker in allen Punk-
ten diesem Negelwescn entgegentraten, so faßte ihr Haß das classische Zeitalter
der französischen Literatur uicht minder falsch aus, als die Liebe seiner Anhänger.
Sie glaubten denselben aufs Wort, das Zeitalter Ludwig's X,lV. sei ein Abbild
deö Augusteischen, unheimisch, unchristlich, mehr mit der Denkweise Cicero'S und
Virgil's, als mit dem Geiste des französischen Ritterthums verwandt. In der That
hat aber jenes Jahrhundert das erhabene, pedantische, feierliche Gesicht nur in
den Büchern der Ausleger und auf den literarischen Schulbänken; eigentlich gilt
an ihm noch immer der Ausspruch der Iran v. Sevignü: >>o sic-vio kort,
zMisant; it e">. ruxalivr v>, ni'vxMvi', c>(:vol, ol. imM, uclounc: nux. t'ulnlllvs-,
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Recht sagen, daß es eine Periode der Uebergänge und der Nuancen war. Seine
Regelmäßigkeit wie sein Heidenthum und seine antike Gesinnung lag lediglich in
der Oberfläche, in den äußeren Formen, der Geist, in welchem es empfand, dich¬
tete und urtheilte, liebte und haßte, war der Geist des altfranzösischen Ritterthums,
der feudalen Ehre und Liebe, des christlichen Spiritualismus. Corneille, Racine,
Lafontaine, selbst Voltaire sind tausendmal verwandter mit Ariost, Calderon, Sha¬
kespeare, Goethe, als mit CuripideS oderSeueca. -- Ein sehr wahres, und für einen
Franzosen verdienstvolles Urtheil;, ein Urtheil, welches wir der romantischen Bil¬
dung verdanken, und welches der französischen Literaturgeschichte eine neue, objec¬
tive Wendung geben muß.

Wenn Quiuet von diesem Standpunkt aus die Berechtigung des Kampfes
anerkennt, den die deutsche Literatur seit Lessing gegen das Franzosenthum ge¬
führt, und der sich seit dem Buch der Frau v. Stal-l über Frankreich selbst ausge¬
dehnt, so ist er doch keineswegs mit der Fortdauer dieses Einflusses aus Deutsch¬
land zufrieden. "Unter der Restauration studirte Frankreich mit tiefer Verehrung
und ausdauernder Unterwerfung die deutsche Philosophie und Poesie. ES war
die Scene des Studenten im Faust. Man ahmte nach, man übersetzte, man
machte Auszüge, und wieder Nachahmung, wieder Uebcrseiznng, wieder Auszüge.
Von Zeit zu Zeit wandte der Doeivr seinen Kops mit weiser Miene nach der
armen Gallia, welche wie ein kleines Mädchen von neuem in die Schule ging-
Selten zeigte er sich mit seiner Schülerin zufrieden. Hin und wieder deutete ein


Welt, sie stelle» es lediglich mit den beiden übrigen Perioden der Geschichte, in
denen sie auf ähnliche Weise ein Bild der goldnen Zeit verehren, in Verbindung,
mit dem! Augusteischen Zeitalter und dem Jahrhundert Leo's X. Die Über¬
gangszeiten lassen sie als barbarisch aber als gleichgiltig für die Entwickelung der
echten Humanität bei Seite fallen. Die Schule hatte sich znlchr ans eine Weise
in ihr System und ihre Regeln verstrickt, daß sie genau die Zahl der Bilder be¬
rechnete, welche die Poesie ertragen könne, ohne zu sterben; daß sie dem Dichter
nicht blos seine Metaphern muaß, sondern auch seinen Antheil an Ideen, Em¬
pfindungen, Liebe, Religion, Poesie. Wenn nun die Romantiker in allen Punk-
ten diesem Negelwescn entgegentraten, so faßte ihr Haß das classische Zeitalter
der französischen Literatur uicht minder falsch aus, als die Liebe seiner Anhänger.
Sie glaubten denselben aufs Wort, das Zeitalter Ludwig's X,lV. sei ein Abbild
deö Augusteischen, unheimisch, unchristlich, mehr mit der Denkweise Cicero'S und
Virgil's, als mit dem Geiste des französischen Ritterthums verwandt. In der That
hat aber jenes Jahrhundert das erhabene, pedantische, feierliche Gesicht nur in
den Büchern der Ausleger und auf den literarischen Schulbänken; eigentlich gilt
an ihm noch immer der Ausspruch der Iran v. Sevignü: >>o sic-vio kort,
zMisant; it e«>. ruxalivr v>, ni'vxMvi', c>(:vol, ol. imM, uclounc: nux. t'ulnlllvs-,
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Recht sagen, daß es eine Periode der Uebergänge und der Nuancen war. Seine
Regelmäßigkeit wie sein Heidenthum und seine antike Gesinnung lag lediglich in
der Oberfläche, in den äußeren Formen, der Geist, in welchem es empfand, dich¬
tete und urtheilte, liebte und haßte, war der Geist des altfranzösischen Ritterthums,
der feudalen Ehre und Liebe, des christlichen Spiritualismus. Corneille, Racine,
Lafontaine, selbst Voltaire sind tausendmal verwandter mit Ariost, Calderon, Sha¬
kespeare, Goethe, als mit CuripideS oderSeueca. — Ein sehr wahres, und für einen
Franzosen verdienstvolles Urtheil;, ein Urtheil, welches wir der romantischen Bil¬
dung verdanken, und welches der französischen Literaturgeschichte eine neue, objec¬
tive Wendung geben muß.

Wenn Quiuet von diesem Standpunkt aus die Berechtigung des Kampfes
anerkennt, den die deutsche Literatur seit Lessing gegen das Franzosenthum ge¬
führt, und der sich seit dem Buch der Frau v. Stal-l über Frankreich selbst ausge¬
dehnt, so ist er doch keineswegs mit der Fortdauer dieses Einflusses aus Deutsch¬
land zufrieden. „Unter der Restauration studirte Frankreich mit tiefer Verehrung
und ausdauernder Unterwerfung die deutsche Philosophie und Poesie. ES war
die Scene des Studenten im Faust. Man ahmte nach, man übersetzte, man
machte Auszüge, und wieder Nachahmung, wieder Uebcrseiznng, wieder Auszüge.
Von Zeit zu Zeit wandte der Doeivr seinen Kops mit weiser Miene nach der
armen Gallia, welche wie ein kleines Mädchen von neuem in die Schule ging-
Selten zeigte er sich mit seiner Schülerin zufrieden. Hin und wieder deutete ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/53>, abgerufen am 22.07.2024.