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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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oder physischer Entwickelungen eintritt. So hat man sich namentlich in der neuern
deutschen Philosophie damit abgequält, den Punkt des Archimedes zu finden, von
welchem aus man die Welt der Ideen in Bewegung setzen könne, man hat ihn
im Ich, im Nicht-Ich, im Sein, in Gott, in der Bewegung n. s. w. zu finden
geglaubt, nud sich den Schein gegeben, als sei aus diesem heraus durch den
"umschlichen Geist das Universum ebenso zu entwickeln, wie es sich aus dem gött¬
lichen "Werde!" entwickelt habe. Der Mittelpunkt der Erdoberfläche ist, wo man
steht. Das Urtheil wird in jedem einzelnen Falle, wenn man der Grundsätze
sicher ist, unmittelbar gefällt werden können, ohne daß mau nöthig hätte, rückwärts
den Entwickelungsgang bis zu Adam zu verfolgen; obgleich man sehr wohl im
Stande sein muß, den Beweis, d. h. das Verhältniß dieser Wahrheit zu einer
allgemein anerkannten Wahrheit, hinzuzufügen. Wo ein Salz an sich unklar, un¬
bestimmt, unvollständig ist, wird er durch eine Beziehung ans andere Sätze der¬
selben Art nicht bestimmter.

Das Wesen der romantischen Kritik liegt also nicht an diesem Mangel einer
äußerlichen Systematik, souderu in der Unruhe, mit welcher man den einen Ge¬
sichtspunkt mit dem andern wechselt. Die romantische Kritik empfindet -- d. h.
strebt nach der Totalität des Eindrucks -- und analysirt; beides ist nothwendig,
denn die sogenannte reine Berstandeö-Analyse ohne Empfängnis! der Totalität
rechnet ebenso falsch, als die Ungeduld des ungeschulten Gefühls. Aber ihre
Empfindung und ihre Neflerion gehn ans einander. Sie läßt sich mit großer
Lust auf die Irrwege des Zweifels ein, ohne zu wissen wohin, und dann kommt
wieder das Gefühl und weht den müden Wanderer auf den alten Platz, in die
süße Gewohnheit des Daseins und Glaubens zurück. Die Empfindung hebt die
Resultate des Nachdenkens auf, und das Denken paralysirt die Eindrücke der
Empfindung; der Glaube schaudert vor dem Wissen zurück, und das Wissen hebt
deu Glauben aus deu Fugen.

Diese Doppclstitigkeit des Denkens ist der ""mittelbarste Eindruck, deu wir
aus Quiuet's Betracytuugen über den zuerst in Denischland frei gewordenen
philosophischen Geist des Jahrhunderts davontragen. Auf der einen Seite sehen
wir den Kampf gegen das angeblich classische altfranzösische Wesen, in welchen
seit Lessig der bessere Theil der deutschen Literatur sich sammelt, mit aller Heftig¬
keit, die bei einem nahe verwand!en Gegner nur allen natürlich ist, fortgesetzt;
auf der andern empört sich der im Grunde noch immer katholische Geist des jungen
Frankreich gegen die zersetzende Kritik, welche die deutsche Philosophie, das eigent¬
liche Erzeugniß des protestantischen Denkens, an den allverehrten Heiligthümern
der Nation ausgeübt hat. -- Wir betrachte" zuerst die eine Seite.

Quiuet findet in den beiden feindlichen Heerlagern den gleichen Grundirrthum.
Die Klassiker isoliren das Zeitalter Ludwigs XIV., als ein in sich abgeschlossenes
und in allen Formen vollendetes, von der allgemeinen Entwickelung der modernen


oder physischer Entwickelungen eintritt. So hat man sich namentlich in der neuern
deutschen Philosophie damit abgequält, den Punkt des Archimedes zu finden, von
welchem aus man die Welt der Ideen in Bewegung setzen könne, man hat ihn
im Ich, im Nicht-Ich, im Sein, in Gott, in der Bewegung n. s. w. zu finden
geglaubt, nud sich den Schein gegeben, als sei aus diesem heraus durch den
»umschlichen Geist das Universum ebenso zu entwickeln, wie es sich aus dem gött¬
lichen „Werde!" entwickelt habe. Der Mittelpunkt der Erdoberfläche ist, wo man
steht. Das Urtheil wird in jedem einzelnen Falle, wenn man der Grundsätze
sicher ist, unmittelbar gefällt werden können, ohne daß mau nöthig hätte, rückwärts
den Entwickelungsgang bis zu Adam zu verfolgen; obgleich man sehr wohl im
Stande sein muß, den Beweis, d. h. das Verhältniß dieser Wahrheit zu einer
allgemein anerkannten Wahrheit, hinzuzufügen. Wo ein Salz an sich unklar, un¬
bestimmt, unvollständig ist, wird er durch eine Beziehung ans andere Sätze der¬
selben Art nicht bestimmter.

Das Wesen der romantischen Kritik liegt also nicht an diesem Mangel einer
äußerlichen Systematik, souderu in der Unruhe, mit welcher man den einen Ge¬
sichtspunkt mit dem andern wechselt. Die romantische Kritik empfindet — d. h.
strebt nach der Totalität des Eindrucks — und analysirt; beides ist nothwendig,
denn die sogenannte reine Berstandeö-Analyse ohne Empfängnis! der Totalität
rechnet ebenso falsch, als die Ungeduld des ungeschulten Gefühls. Aber ihre
Empfindung und ihre Neflerion gehn ans einander. Sie läßt sich mit großer
Lust auf die Irrwege des Zweifels ein, ohne zu wissen wohin, und dann kommt
wieder das Gefühl und weht den müden Wanderer auf den alten Platz, in die
süße Gewohnheit des Daseins und Glaubens zurück. Die Empfindung hebt die
Resultate des Nachdenkens auf, und das Denken paralysirt die Eindrücke der
Empfindung; der Glaube schaudert vor dem Wissen zurück, und das Wissen hebt
deu Glauben aus deu Fugen.

Diese Doppclstitigkeit des Denkens ist der ««mittelbarste Eindruck, deu wir
aus Quiuet's Betracytuugen über den zuerst in Denischland frei gewordenen
philosophischen Geist des Jahrhunderts davontragen. Auf der einen Seite sehen
wir den Kampf gegen das angeblich classische altfranzösische Wesen, in welchen
seit Lessig der bessere Theil der deutschen Literatur sich sammelt, mit aller Heftig¬
keit, die bei einem nahe verwand!en Gegner nur allen natürlich ist, fortgesetzt;
auf der andern empört sich der im Grunde noch immer katholische Geist des jungen
Frankreich gegen die zersetzende Kritik, welche die deutsche Philosophie, das eigent¬
liche Erzeugniß des protestantischen Denkens, an den allverehrten Heiligthümern
der Nation ausgeübt hat. — Wir betrachte» zuerst die eine Seite.

Quiuet findet in den beiden feindlichen Heerlagern den gleichen Grundirrthum.
Die Klassiker isoliren das Zeitalter Ludwigs XIV., als ein in sich abgeschlossenes
und in allen Formen vollendetes, von der allgemeinen Entwickelung der modernen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/52>, abgerufen am 22.07.2024.