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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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die eigentliche Kritik, wo sie mit einer gewissen Energie auftritt, hart, und wo sie
bescheiden ist, nüchtern vorkommen. Selbst wo sie bewundert, muß sie zarte
Seelen beleidigen, denn sie motivirt ihre Bewunderung und stellt sich damit
anscheinend über den schöpferischen Fetisch, der nur an dem Weihrauch einfältiger,
aber gläubiger Seelen Gefallen findet.

Die methodische Kritik wird allerdings sehr nüchterne Fragen zu stellen haben
-- Nüchtern im Gegensah zum betrunkenen gebraucht -- Frage", über die unsere
Feuilleton-Kritik, die ihre Ausgabe dadurch löst, daß sie von riesenhaften Dimen-
sionen spricht, von Pyramiden, die sich in den Wolken verlieren, von Marmor¬
blöcken, zwischen denen dunkelrothe Blntrosen hervorquellen, und die durch diese
blödsinnige Combination hergebrachter romantischer Phrasen zwar einem Theetisch
hysterischer Blaustrümpfe imponirt, aber zum Verständniß der Sache nichts bei¬
trägt, in eine mit Entschen gemischte Verwunderung gerathen wird. Sie hat
nämlich, wenn sie z. B. über ein Drama referirt, die Frage zu steilem was für
einen ästhetischen und sittlichen Eindruck hat der Dichter, der doch unmöglich einen
bloßen Monolog hat hiuanssviuneu "vollen, weil er ihn sonst sür sich hätte be¬
halten können, welche" bestimmten Eindruck auf die Zuschauer hat er bezweckt? ist
dieser Zweck zu billigen oder nicht? inwieweit entspricht das Einzelne und die
Architektonik des Ganzen diesem Zweck? welche Kraft hat er zur Erreichung dessel¬
ben angewendet? in welchen! Verhältniß steht dieser Kraftaufwand zur Größe
seiner Aufgabe? in welchem Verhältniß die neue Erscheinung des Guten, Schönen
und Wahren, die er gefunden hat, zu den Idealen, welche das allgemeine Be¬
wußtsein bereits umfaßt? n. s. w. Fragen, auf die eine bestimmte Autwort zu
geben, und durch deren Lösung ein absolutes, in allen Theilen zu erweiseudes
Urtheil über den Werth nud Unwerth der Dichtung herzuleiten ist.

Vor allen Dingen muß, wenn man von einer methodischen Kritik spricht, vor
einem weit verbreitete" Vorurtheil gewarnt werden. Man ist geneigt, die wissen¬
schaftliche Form in der Vollständigkeit der Register zu suchen, in welche die ver¬
schiedenen Theile des zu behandelnden Gegenstandes aufgeschichtet werden, und in
der zweckmäßigen Aufeinanderfolge derselben. Wo man drei Hauptabtheilungen,
in jeder drei Unterabtheilungen faud, und so fort bis in's Unendliche, glaubte man
der N'issenschastlichen Unfehlbarkeit sicher zu sein. Das Linn<z'sche System, die
mathematische Convenienz und die neue Aiislegnilg der heiligen Dreifaltigkeit haben
dazu das Ihrige beigetragen. Man glaubte, wie es in der Mathematik geschieht,
jeden einzelnen Satz aus dem vorhergehenden, und alle mit einander aus einem
obersten Grundsatz herleiten zu müssen, und übersah dabei, daß die Mathematik
lediglich mit ein Paar sinnlichen Abstractionen operirt, und mit einer kleinen Zahl
von Definitionen, die weiter keinen Zweck haben, als vor einem Mißverständniß
der sinnlichen Auschauung zu warnen, allerdings fertig sein kann, während in der
Philosophie in jedem neuen Salz eine neue Idee -- ein neues Resultat ethischer


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die eigentliche Kritik, wo sie mit einer gewissen Energie auftritt, hart, und wo sie
bescheiden ist, nüchtern vorkommen. Selbst wo sie bewundert, muß sie zarte
Seelen beleidigen, denn sie motivirt ihre Bewunderung und stellt sich damit
anscheinend über den schöpferischen Fetisch, der nur an dem Weihrauch einfältiger,
aber gläubiger Seelen Gefallen findet.

Die methodische Kritik wird allerdings sehr nüchterne Fragen zu stellen haben
— Nüchtern im Gegensah zum betrunkenen gebraucht — Frage», über die unsere
Feuilleton-Kritik, die ihre Ausgabe dadurch löst, daß sie von riesenhaften Dimen-
sionen spricht, von Pyramiden, die sich in den Wolken verlieren, von Marmor¬
blöcken, zwischen denen dunkelrothe Blntrosen hervorquellen, und die durch diese
blödsinnige Combination hergebrachter romantischer Phrasen zwar einem Theetisch
hysterischer Blaustrümpfe imponirt, aber zum Verständniß der Sache nichts bei¬
trägt, in eine mit Entschen gemischte Verwunderung gerathen wird. Sie hat
nämlich, wenn sie z. B. über ein Drama referirt, die Frage zu steilem was für
einen ästhetischen und sittlichen Eindruck hat der Dichter, der doch unmöglich einen
bloßen Monolog hat hiuanssviuneu »vollen, weil er ihn sonst sür sich hätte be¬
halten können, welche» bestimmten Eindruck auf die Zuschauer hat er bezweckt? ist
dieser Zweck zu billigen oder nicht? inwieweit entspricht das Einzelne und die
Architektonik des Ganzen diesem Zweck? welche Kraft hat er zur Erreichung dessel¬
ben angewendet? in welchen! Verhältniß steht dieser Kraftaufwand zur Größe
seiner Aufgabe? in welchem Verhältniß die neue Erscheinung des Guten, Schönen
und Wahren, die er gefunden hat, zu den Idealen, welche das allgemeine Be¬
wußtsein bereits umfaßt? n. s. w. Fragen, auf die eine bestimmte Autwort zu
geben, und durch deren Lösung ein absolutes, in allen Theilen zu erweiseudes
Urtheil über den Werth nud Unwerth der Dichtung herzuleiten ist.

Vor allen Dingen muß, wenn man von einer methodischen Kritik spricht, vor
einem weit verbreitete« Vorurtheil gewarnt werden. Man ist geneigt, die wissen¬
schaftliche Form in der Vollständigkeit der Register zu suchen, in welche die ver¬
schiedenen Theile des zu behandelnden Gegenstandes aufgeschichtet werden, und in
der zweckmäßigen Aufeinanderfolge derselben. Wo man drei Hauptabtheilungen,
in jeder drei Unterabtheilungen faud, und so fort bis in's Unendliche, glaubte man
der N'issenschastlichen Unfehlbarkeit sicher zu sein. Das Linn<z'sche System, die
mathematische Convenienz und die neue Aiislegnilg der heiligen Dreifaltigkeit haben
dazu das Ihrige beigetragen. Man glaubte, wie es in der Mathematik geschieht,
jeden einzelnen Satz aus dem vorhergehenden, und alle mit einander aus einem
obersten Grundsatz herleiten zu müssen, und übersah dabei, daß die Mathematik
lediglich mit ein Paar sinnlichen Abstractionen operirt, und mit einer kleinen Zahl
von Definitionen, die weiter keinen Zweck haben, als vor einem Mißverständniß
der sinnlichen Auschauung zu warnen, allerdings fertig sein kann, während in der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/51>, abgerufen am 03.07.2024.