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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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und unberechtigt erscheinen muß. Eine weiche naar wird über diesen Gedanken
schwermüthig werden und das ganze Leben in Ti/räueu, Seufzen, Heulen und
Zähnklappern auflösen; sie wird die irdische Weisheit und die irdische Thätigkeit
verachten, weil mau doch uicht wissen kauu, wie sich das zur göttlichen Weisheit
und zur göttlichen Thätigkeit verhalte; eine despotische Natur wird diese Einsicht
in die Nichtigkeit des menschlichen Wesens weniger auf sich, als auf andere an¬
wenden; er wird jenes Heulen und Zähnklappern bei Andern hervorzurufen
suchen.

Aber es gibt auch gesunde Naturen, deuen der Himmel nur die Augel ist,
an welcher sie die Erde und ihr Gesetz befestigen. Sie glauben an diese Welt,
an das Rechte, Gute und Schöne, das sich in ihr offenbart, und weil sie diesen
Glauben aus eiuer jenseitigen Welt herleiten, so ist es ganz natürlich, daß sie
derselben eine so concrete, positive, bestimmte, historische Form als möglich zu geben
suchen. Sie werden die kräftigen Geschichten, Sprüche, Lieder des rechtgläubigen
Christenthums den verwässerten Phrasen des rationalistischen Christenthums vor¬
ziehen.

Wir glauben auch an diese Welt und an das Rechte, Gute und
Schöne, das sich in ihr offenbart, obgleich für uns das Fundament, auf dem sie
ruht, nicht der Himmel ist. Für uns steht sie auf eigeuen Füßen. -- Aber wir
werden uus mit jenen Orthodoxen viel eher verständigen, als mit den blasirten
Atheisten, die mit dem Glauben an Gott auch den Glauben an das Göttliche
(das Gute), mit dem Glauben an deu Himmel auch den Glauben an die Erde
verloren haben; die in jedem Augenblick erst einen Beweis verlangen, warum
man uicht stehlen, morden u. s. w. soll; die am Ende in ihrem Skepticismus
so weit gehen, daß sie die Ohrfeige in Frage stellen, die man ihnen ertheilt.

Jeremias Gotthelf genießt diese Erde und ihr Recht mit vielem Behagen,
ja mit Humor. Er ist auch in sittlichen Dingen kein Zelot. Er weiß, daß eine
gesunde Natur nicht nöthig hat, erst den Katechismus zu befragen, bevor sie sich
zu Tisch seist. Er predigt uicht die Flucht vor der Versuchung, sondern den
tapfern Kampf.

Er hat ein schönes Auge für die menschliche Natur, ein warmes Herz für
ihre Leiden und Freuden. Er will ihre natürliche Entwickelung und haßt die
Quacksalber, die sie stören. Darum haßt er deu Radikalismus.

Aber sein warmes Herz ist nicht weich, er übt keine feige Schonung gegen
die Schwachen Seine Grundsätze sind streng, seine Liebe weit. Sein Hori¬
zont ist enge umgrenzt, wie die Thäler, in denen er predigt, aber in diesem
kleinen Kreise leuchtet ein Heller und warmer Sonnenschein.

Er ist ganz Schweizer -- für uns zu sehr Schweizer: er hat freilich seine
Schriften selber deutsch zurecht geschnitten, aber etwas Ganzes kommt dabei doch
nicht heraus. Es ist doch immer eine Mischung schweizerischer Naivität und


und unberechtigt erscheinen muß. Eine weiche naar wird über diesen Gedanken
schwermüthig werden und das ganze Leben in Ti/räueu, Seufzen, Heulen und
Zähnklappern auflösen; sie wird die irdische Weisheit und die irdische Thätigkeit
verachten, weil mau doch uicht wissen kauu, wie sich das zur göttlichen Weisheit
und zur göttlichen Thätigkeit verhalte; eine despotische Natur wird diese Einsicht
in die Nichtigkeit des menschlichen Wesens weniger auf sich, als auf andere an¬
wenden; er wird jenes Heulen und Zähnklappern bei Andern hervorzurufen
suchen.

Aber es gibt auch gesunde Naturen, deuen der Himmel nur die Augel ist,
an welcher sie die Erde und ihr Gesetz befestigen. Sie glauben an diese Welt,
an das Rechte, Gute und Schöne, das sich in ihr offenbart, und weil sie diesen
Glauben aus eiuer jenseitigen Welt herleiten, so ist es ganz natürlich, daß sie
derselben eine so concrete, positive, bestimmte, historische Form als möglich zu geben
suchen. Sie werden die kräftigen Geschichten, Sprüche, Lieder des rechtgläubigen
Christenthums den verwässerten Phrasen des rationalistischen Christenthums vor¬
ziehen.

Wir glauben auch an diese Welt und an das Rechte, Gute und
Schöne, das sich in ihr offenbart, obgleich für uns das Fundament, auf dem sie
ruht, nicht der Himmel ist. Für uns steht sie auf eigeuen Füßen. — Aber wir
werden uus mit jenen Orthodoxen viel eher verständigen, als mit den blasirten
Atheisten, die mit dem Glauben an Gott auch den Glauben an das Göttliche
(das Gute), mit dem Glauben an deu Himmel auch den Glauben an die Erde
verloren haben; die in jedem Augenblick erst einen Beweis verlangen, warum
man uicht stehlen, morden u. s. w. soll; die am Ende in ihrem Skepticismus
so weit gehen, daß sie die Ohrfeige in Frage stellen, die man ihnen ertheilt.

Jeremias Gotthelf genießt diese Erde und ihr Recht mit vielem Behagen,
ja mit Humor. Er ist auch in sittlichen Dingen kein Zelot. Er weiß, daß eine
gesunde Natur nicht nöthig hat, erst den Katechismus zu befragen, bevor sie sich
zu Tisch seist. Er predigt uicht die Flucht vor der Versuchung, sondern den
tapfern Kampf.

Er hat ein schönes Auge für die menschliche Natur, ein warmes Herz für
ihre Leiden und Freuden. Er will ihre natürliche Entwickelung und haßt die
Quacksalber, die sie stören. Darum haßt er deu Radikalismus.

Aber sein warmes Herz ist nicht weich, er übt keine feige Schonung gegen
die Schwachen Seine Grundsätze sind streng, seine Liebe weit. Sein Hori¬
zont ist enge umgrenzt, wie die Thäler, in denen er predigt, aber in diesem
kleinen Kreise leuchtet ein Heller und warmer Sonnenschein.

Er ist ganz Schweizer — für uns zu sehr Schweizer: er hat freilich seine
Schriften selber deutsch zurecht geschnitten, aber etwas Ganzes kommt dabei doch
nicht heraus. Es ist doch immer eine Mischung schweizerischer Naivität und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/501>, abgerufen am 01.10.2024.