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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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deutscher Bildung, die nicht recht zusammenstimmen will. Für uns sind es nur
Idyllen, in deren Welt wir.uns erst versetzen müssen; darum werden sie für
Deutschland auch keine Volksbücher werden.

Aber eine solche Arzenei ist auch gerade uusern sogenannten Gebildeten
nothwendig. Das weiche, süßliche, zerfahrene, skeptische Wesen unserer jungen
Literatur soll sich an dieser starken, vollen, sichern Natur wieder kräftigen. Wir
sollen aus ihr lernen, das Volk, ehe wir es glücklich zu macheu streben, erst
zu studiren; das Leben, ehe wir mit ihm grollen, erst zu begreifen.


,1. 8.


Henriette Herz.*)



Henriette Herz, geb. 176^, 1- 1848, gehörte zu jenem Berliner Kreise geist¬
reicher Frauen, die im Anfang dieses Jahrhunderts in der Gesellschaft wie in
der Literatur den Ton angaben. Schleiermacher, später Börne, standen in der
genauesten Beziehung zu ihr; die Schlegel, Gelad, Prinz Louis, die Humboldt
Elise v. d. Recke, Arndt, selbst Göthe und Schiller, und wer sonst durch Geist
und Bildung sich auszeichnete, war mit der liebenswürdigen Fran wenigstens auf
eine Zeit in Berührung gekommen.

Das vorstehende Buch, welches ihr Leben und ihre Erinnerungen behandelt,
ist mit Liebe geschrieben und voller Interesse. Man lernt die bedeutenden Män¬
ner jener Zeit von einer Seite kennen, die sich der gewöhnlichen Betrachtung
entzieht, und man gewinnt dabei noch ein Stückchen intimes Leben. -- Ueber
das Einzelne haben sich die Berliner Zeitungen schon mit hinlänglicher Ausführ¬
lichkeit verbreitet, wir knüpfen einige allgemeine Betrachtungen an.

Jene Zeit der Staöl, der Dorothee Schlegel, der jungen Bettine, der Na¬
del Levin, und der vielen andern Frauen, die mit der romantischen Literatur und
dem romantischen Leben einer aufstrebenden, aber verworrenen Periode, einer
Gesellschaft, die reich an Liebe und Sehnsucht war, aber arm an sittlicher Bil¬
dung, in nächster Berührung standen, und für dieselbe gewissermaßen den gei¬
stigen Mittelpunkt hergaben, denn sie waren das ideale Publikum, für das die
jungen Dichter ihre Sonette erdachten, dem zu Gefallen die jungen Ritter ihre
Lanze brachen -- jene Zeit war die erste Phase der Emancipation der Weiber,
die sich später vom Thee auf das Bier, vom Patschuli ans den Cigarrendampf,
von den Sonetten über Waldeinsamkeit, duftende Vöglein und singende Blümlein
auf den heroischen Dithyrambus des befreiten Menschengeschlechts warf. In



Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Herausgegeben von I. Fürst. Berlin, W, Hertz.

deutscher Bildung, die nicht recht zusammenstimmen will. Für uns sind es nur
Idyllen, in deren Welt wir.uns erst versetzen müssen; darum werden sie für
Deutschland auch keine Volksbücher werden.

Aber eine solche Arzenei ist auch gerade uusern sogenannten Gebildeten
nothwendig. Das weiche, süßliche, zerfahrene, skeptische Wesen unserer jungen
Literatur soll sich an dieser starken, vollen, sichern Natur wieder kräftigen. Wir
sollen aus ihr lernen, das Volk, ehe wir es glücklich zu macheu streben, erst
zu studiren; das Leben, ehe wir mit ihm grollen, erst zu begreifen.


,1. 8.


Henriette Herz.*)



Henriette Herz, geb. 176^, 1- 1848, gehörte zu jenem Berliner Kreise geist¬
reicher Frauen, die im Anfang dieses Jahrhunderts in der Gesellschaft wie in
der Literatur den Ton angaben. Schleiermacher, später Börne, standen in der
genauesten Beziehung zu ihr; die Schlegel, Gelad, Prinz Louis, die Humboldt
Elise v. d. Recke, Arndt, selbst Göthe und Schiller, und wer sonst durch Geist
und Bildung sich auszeichnete, war mit der liebenswürdigen Fran wenigstens auf
eine Zeit in Berührung gekommen.

Das vorstehende Buch, welches ihr Leben und ihre Erinnerungen behandelt,
ist mit Liebe geschrieben und voller Interesse. Man lernt die bedeutenden Män¬
ner jener Zeit von einer Seite kennen, die sich der gewöhnlichen Betrachtung
entzieht, und man gewinnt dabei noch ein Stückchen intimes Leben. — Ueber
das Einzelne haben sich die Berliner Zeitungen schon mit hinlänglicher Ausführ¬
lichkeit verbreitet, wir knüpfen einige allgemeine Betrachtungen an.

Jene Zeit der Staöl, der Dorothee Schlegel, der jungen Bettine, der Na¬
del Levin, und der vielen andern Frauen, die mit der romantischen Literatur und
dem romantischen Leben einer aufstrebenden, aber verworrenen Periode, einer
Gesellschaft, die reich an Liebe und Sehnsucht war, aber arm an sittlicher Bil¬
dung, in nächster Berührung standen, und für dieselbe gewissermaßen den gei¬
stigen Mittelpunkt hergaben, denn sie waren das ideale Publikum, für das die
jungen Dichter ihre Sonette erdachten, dem zu Gefallen die jungen Ritter ihre
Lanze brachen — jene Zeit war die erste Phase der Emancipation der Weiber,
die sich später vom Thee auf das Bier, vom Patschuli ans den Cigarrendampf,
von den Sonetten über Waldeinsamkeit, duftende Vöglein und singende Blümlein
auf den heroischen Dithyrambus des befreiten Menschengeschlechts warf. In



Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Herausgegeben von I. Fürst. Berlin, W, Hertz.
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[0502] deutscher Bildung, die nicht recht zusammenstimmen will. Für uns sind es nur Idyllen, in deren Welt wir.uns erst versetzen müssen; darum werden sie für Deutschland auch keine Volksbücher werden. Aber eine solche Arzenei ist auch gerade uusern sogenannten Gebildeten nothwendig. Das weiche, süßliche, zerfahrene, skeptische Wesen unserer jungen Literatur soll sich an dieser starken, vollen, sichern Natur wieder kräftigen. Wir sollen aus ihr lernen, das Volk, ehe wir es glücklich zu macheu streben, erst zu studiren; das Leben, ehe wir mit ihm grollen, erst zu begreifen. ,1. 8. Henriette Herz.*) Henriette Herz, geb. 176^, 1- 1848, gehörte zu jenem Berliner Kreise geist¬ reicher Frauen, die im Anfang dieses Jahrhunderts in der Gesellschaft wie in der Literatur den Ton angaben. Schleiermacher, später Börne, standen in der genauesten Beziehung zu ihr; die Schlegel, Gelad, Prinz Louis, die Humboldt Elise v. d. Recke, Arndt, selbst Göthe und Schiller, und wer sonst durch Geist und Bildung sich auszeichnete, war mit der liebenswürdigen Fran wenigstens auf eine Zeit in Berührung gekommen. Das vorstehende Buch, welches ihr Leben und ihre Erinnerungen behandelt, ist mit Liebe geschrieben und voller Interesse. Man lernt die bedeutenden Män¬ ner jener Zeit von einer Seite kennen, die sich der gewöhnlichen Betrachtung entzieht, und man gewinnt dabei noch ein Stückchen intimes Leben. — Ueber das Einzelne haben sich die Berliner Zeitungen schon mit hinlänglicher Ausführ¬ lichkeit verbreitet, wir knüpfen einige allgemeine Betrachtungen an. Jene Zeit der Staöl, der Dorothee Schlegel, der jungen Bettine, der Na¬ del Levin, und der vielen andern Frauen, die mit der romantischen Literatur und dem romantischen Leben einer aufstrebenden, aber verworrenen Periode, einer Gesellschaft, die reich an Liebe und Sehnsucht war, aber arm an sittlicher Bil¬ dung, in nächster Berührung standen, und für dieselbe gewissermaßen den gei¬ stigen Mittelpunkt hergaben, denn sie waren das ideale Publikum, für das die jungen Dichter ihre Sonette erdachten, dem zu Gefallen die jungen Ritter ihre Lanze brachen — jene Zeit war die erste Phase der Emancipation der Weiber, die sich später vom Thee auf das Bier, vom Patschuli ans den Cigarrendampf, von den Sonetten über Waldeinsamkeit, duftende Vöglein und singende Blümlein auf den heroischen Dithyrambus des befreiten Menschengeschlechts warf. In Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Herausgegeben von I. Fürst. Berlin, W, Hertz.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/502>, abgerufen am 01.07.2024.